: Ein neues Deutschland in alter Verfassung?
■ Das Provisorium namens Grundgesetz bleibt nicht das letzte Wort der deutschen Verfassungsgeschichte / Die Dritte Republik braucht eine radikal-demokratische Verfassungsreform / Die (West)SPD-Initiative für einen Verfassungsrat kommt allzu spät, geht aber in die richtige Richtung
Von Horst Meier
Als 1949 das „deutsche Volk in den Ländern Baden, Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern, um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschloß, hat es erklärtermaßen „auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war“. Heute, da die unter den Artikelkürzeln 23 oder 146 geführte Verfassungsdebatte längst vom Aktualitätswert der Währungs- und Verwaltungsprobleme verdrängt worden ist, zeichnet sich ab, daß es bei dieser „versagten Mitwirkung“ bleiben wird - bis auf weiteres jedenfalls. Während die Mehrheit der Westdeutschen sich im Besitz der besten aller Verfassungen wähnt, finden jene, die damals nicht mitwirken durften, heute nicht die Kraft, einer neuen gesamtdeutschen Verfassung auf unverwechselbare Weise ihren Stempel aufzudrücken.
Zu nachhaltig noch wirken der Schock und die Depression, die vierzig Jahre „realer Sozialismus“ hinterlassen haben. Da aber, wo die Menschen die Frage „eins zu eins“ mehr bewegt als „dreiundzwanzig oder hundertsechsundvierzig“, haben wir keinen Anlaß, einen Abgrund von materialistisch -konsumistischer Verkommenheit zu argwöhnen, sondern sollten dies getrost einer gänzlich unheroischen, pragmatischen Lebensklugheit zuschreiben. Nach Jahrzehnten der Zwangsvergesellschaftung hat das Volk der DDR auch ein Recht auf Entpolitisierung, auf privates Lebensglück. Es steht uns schlecht an, eilfertig Lehren über den rechten Gebrauch der Freiheit zu erteilen.
Mit dem Ausgang der ersten freien Volkskammerwahlen vom 18.März scheint die Verfassungsfrage, kaum daß sie überhaupt formuliert werden konnte, eine unversehens klare Antwort erfahren zu haben. Seit dem Wahlsieg der „Allianz für Deutschland“ ist der beschleunigte Abriß der DDR beschlossene Sache. Schließlich hatte die West/Ost-CDU keinen Hehl daraus gemacht, daß ihr an einer neuen Verfassung herzlich wenig und am schnellen Beitritt zur Bundesrepublik sowie der pauschalen Übernahme des Grundgesetzes ausgesprochen viel gelegen sei. Der konservative „Königsweg“ zur deutschen Einheit steht unter der Vorgabe, den westdeutschen Status quo auf das Gebiet der DDR zu erweitern.
Erst einmal ein großer Schritt nach vorn
Bleibt also das „Grundgesetz“ genannte Provisorium des Jahres 1948/49 auch nach dem Zusammenbruch der DDR das letzte Wort der deutschen Verfassungsgeschichte? Die derzeit Gestalt annehmende, stereotyp gepriesene „Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion“ kennt jedenfalls eine Verfassungsunion ebensowenig wie die kürzlich aufgenommenen Verhandlungen über einen zweiten Staatsvertrag (die aller Voraussicht nach auf technische Dinge wie Wahlrechts- und Terminfragen beschränkt werden).
Wie sich gezeigt hat, war das Bonner Grundgesetz ein recht brauchbarer Rahmen für die „Übergangszeit“ des materiellen und politischen Wiederaufbaus der 50er und 60er Jahre. Und noch heute ist es für die Ostdeutschen, gemessen an den Standards der DDR-Verfassung vom 7.Oktober 1974, deren „realsozialistische“ Charakteristika die Volkskammer bereits gestrichen hat, ein großer Schritt nach vorn. Ein Regelwerk aber, dessen Schöpfer so weise waren, es nicht einmal „Verfassung“ zu nennen, wird indes nicht die angemessene politische Form des vereinten Deutschland an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend sein. Oder glaubt man allen Ernstes, die Deutschen hätten, „auferstanden aus Ruinen“, ausgerechnet im Jahr 1949 der Verfassungsweisheit letzten Schluß besiegelt?
Als in der Volkskammer am Nachmittag des 26.April 1990 über einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Grüne diskutiert wurde, den am 4.April von einer Arbeitsgruppe des Runden Tisches vorgelegten Entwurf für eine Verfassung der DDR im Plenum zu beraten, entschloß man sich zu einem parlamentarischen Begräbnis zweiter Klasse: Nicht einmal der bescheidene Antrag, die Sache an den Verfassungsausschuß der Volkskammer zu verweisen, fand eine Mehrheit. Während sich die SPD-Fraktion wenigstens bereiterklärte, im Ausschuß die Argumente der Opposition anzuhören, war von den Rednern der Fraktion CDU/DA und der DSU unisono zu hören, jegliche weitere Beschäftigung mit diesem Dokument sei nichts anderes als „Zeitverschwendung“, und „Umwege“ könne man sich jetzt nicht leisten. Zwei Tage darauf sekundierte ein Kommentator der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Deutschland‘, man habe recht daran getan, sich kein „unbebrütetes Kuckucksei“ unterschieben zu lassen und dankte der knappen Volkskammer -Mehrheit, daß sie „dem Entwurf einer Verfassung für die Noch-DDR den Garaus gemacht“ habe.
Bedeutendstes Vermächtnis in den Wind geschlagen
In diesen Apriltagen wurde das Schicksal des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches, von dem kluge Mitverfasser schon im Frühjahr prophezeiten, es werde ein „Paulskirchendokument“ dabei herauskommen, endgültig besiegelt. Darin zeigt sich eine der vielen politischen Ungleichzeitigkeiten, die in der kollabierenden DDR allerorten zu beobachten sind: Während die Arbeitsgruppe des Runden Tisches, die Anfang Dezember 1989 konstituiert wurde und an der alle politischen Kräfte beteiligt waren, den Verfassungsentwurf noch einstimmig verabschiedete, war die Sache der neugewählten Volkskammer schon keinen Pfifferling mehr wert. Die nachrevolutionäre DDR hat so das wohl bedeutendste Vermächtnis des Runden Tisches, der ein paar Monate lang immerhin Ort und Symbol der direkten Bürgerbeteiligung war, in den Wind geschlagen.
Die Abwehrreaktionen, die eine im Namen des Sozialismus despotisch herrschende Partei- und Staatsbürokratie provoziert hat, sollte man nicht unterschätzen. Den Ausgang der Volkskammerwahl dürften gleichwohl in erster Linie wirtschaftliche Erwägungen bestimmt haben. Aus diesem Grund war der Urnengang vom März alles andere als ein stillschweigendes Plebiszit für das derzeit geltende, inzwischen ja nicht weniger als 35 Mal geänderte Grundgesetz (das übrigens auch einer stattlichen Zahl von Bundesbürgern bis heute unbekannt geblieben sein dürfte).
Realistischerweise wird man wohl sagen müssen, die Mehrheit der Noch-DDR-Bürger hat sich klar für den wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik entschieden, schon weniger klar für die westliche Demokratie und am wenigsten für das Bonner Grundgesetz. Mit letzterem nimmt man pragmatisch jene Verfassung in Kauf, die der erfolgreiche deutsche Konkurrenz - und Vorbildstaat derzeit eben zu bieten hat.
Man mag das ein wenig zerknirscht oder auch gehässig Anschluß nennen, was nach Artikel 23 des Grundgesetzes, flankiert von einem Staatsvertrag, der diese oder jene Schonfrist regelt, in Kürze als Beitritt vonstatten gehen wird. Doch davon wird die deutsche Verfassungslage nicht besser. Heute wächst, ja wuchert beinahe schon zusammen, was lange Zeit nicht zusammengehörte. Feierte man im Herbst noch die Helden der Revolution, hat 1990 die Stunde der westdeutschen Bürokratie geschlagen: Sie betreibt die Vereinigung Deutschlands als außerplanmäßige Verwaltungsaufgabe.
Und während die Fachleute die Eigentumsfrage und ein Sachproblem nach dem anderen abhaken, widmet sich das Volk in Ost und West seinen Alltagssorgen: Die deutsche Einheit findet mangels Volkssouveränität in den Hinterzimmern der Ministerien und Fraktionen statt. Es versteht sich, daß daraus keine Sternstunden des Parlamentarismus erwachsen. In einer Situation, da existentielle nationale Fragen auf der Tagesordnung stehen, geht das Volk zum Friseur oder auf Wohnungssuche, prüft skeptisch Sparbücher oder zwängt sich in seine „Plastebomber“, um endlich einmal Onkel Herbert in Bochum zu besuchen.
Es ist wahr: Vor einem ehernen Gedanken, zumal er schwer an der Verfassung der Nation trägt, blamiert sich die schnöde Realität allemal. Dabei hat dieser Idealismus einen kleinen Haken: Er bringt politisch keinen Schritt weiter. Trotzdem hätte man den Ostdeutschen (und uns selbst) mehr gewünscht als die alternativlose Anpassung an die Bundesrepublik. Doch auch die Westdeutschen gehen ihren Alltagsgeschäften nach und schauen, alles andere als selbstgewiß, längst mit gemischten Gefühlen in die gesamtdeutsche Zukunft: Ist diese nicht auf fast schon bedrohliche Weise nahe gerückt? Und was wird sie kosten?, fragt kleinlaut die SPD auf Veranstaltungsplakaten, nicht ohne einen populistischen Seitenblick auf den westdeutschen Steuerzahler, während Christdemokraten forsch und bemühten Mutes „Deutschlandpolitik für die Zukunft“ verheißen.
Einheitspädagogik auf bescheidenstem Niveau
Wenn es also schlecht steht um eine neue gesamtdeutsche Verfassung, dann keineswegs allein deshalb, weil vielen Ostdeutschen Südfrüchte mehr am Herzen liegen als spröde Verfassungstexte. Denn auch im Westen sind die politischen und sozialen Träger einer Verfassungsbewegung nicht in Sicht. Wo in den letzten Jahrzehnten von Verfassungsreform so gut wie keine Rede war, kann es nicht überraschen, daß keine funkensprühenden Ideen aufblitzen, wenn heute um die Verfassungsfrage mehr herumgeredet als diskutiert wird.
Das zeigte recht anschaulich der merkwürdig substanzlose Mediendisput um den Modus der deutschen Einheit. Beitritt oder verfassunggebende Nationalversammlung: das wäre eine politische Alternative, fiele nur den Befürwortern des Artikels 146 zum Grundgesetz etwas Neues ein. Statt um Inhalte wurde jedoch vor allem anderen um das für beide Seiten schonendste Beitrittsverfahren gestritten, also lediglich um Einheits- und Verfassungspädagogik auf bescheidendstem Niveau. Unterdessen signalisiert die zaghaft erwogene Frage, ob man denn das Volk über seine Einheit lieber selbst abstimmen lassen sollte oder ob gesamtdeutsche Wahlen ausreichten, schon das Ende der kaum begonnenen Diskussion.
„Nun ist freilich eine Alternative zum Grundgesetz nicht denkbar.“ Es ist Ernst Gottfried Mahrenholz, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts und keineswegs ein selbstgerechter Beitrittsbefürworter, der diese konstitutionelle Denkunmöglichkeit behauptet hat. Das wirft ein Schlaglicht auf die Stimmung selbst unter denjenigen, die eher einer verfassunggebenden Versammlung zuneigen und behutsame Schritte auf dem Weg zur deutschen Einheit einklagen. Noch am ehesten läßt man sich auf vage Staatszielbestimmungen sozialer oder - ganz im Trend ökologischer Art ein. Dabei stellt Mahrenholz, es sei hier am Rande vermerkt, sein Plädoyer für einen Volksentscheid in der 'Zeit‘ vom 8.Juni unter den denkwürdig doppeldeutigen Titel „Das Volk muß 'Ja‘ sagen können“. Die verfassungspolitische Linie des Bestandsschutzes, der durch Akklamation ledigliche seine staatsrechtliche Weihe erhalten soll, hat Jochen A.Frowein so pointiert: „Das Grundgesetz behalten - per Volksentscheid.“
Kann es da verwundern, daß vehemente Apologeten unserer nun einmal bestehenden Ordnung wie der konservative Staatsrechtler Josef Isensee, der ein gesamtdeutsches Grundgesetz als leibhaftige Erfüllung der deutschen Verfassungspolitik preist, einen Volksentscheid, bei dem buchstäblich nichs zu entscheiden ist, als „demokratisches Placebo“ verspotten? Den Mangel an politischer Phantasie heilt keine gesamtdeutsche Volksabstimmung. Warum auch sollten die Ostdeutschen einem Grundgesetz nicht einfach beitreten, mit dem man in Westdeutschland so wunschlos glücklich ist?
Eine allzu späte Initiative der West-SPD
Die in der letzten Woche bekanntgewordene Initiative der West-SPD, im zweiten Staatsvertrag einen „Verfassungsrat“ zu vereinbaren, der nach dem Beitritt der DDR binnen zweier Jahre eine gesamtdeutsche Verfassung erarbeiten soll, kommt spät, allzu spät. Abgesehen davon, daß sich die Ost-SPD offensichtlich auf keinerlei Junktim zwischen Verfassungsänderungen und dem Abschluß des nächsten Staatsvertrag festlegen lassen will, pendelt diese Initiative sehr widersprüchlich zwischen exekutivischer und parlamentarischer Strategie.
So soll einerseits eine ganze Reihe von Forderungen schon im Staatsvertrag festgeschrieben werden (etwa das Aussperrungsverbot und eine soziale Grundsicherung), anderes dagegen dem Verfassungsrat überlassen bleiben (so die „Beteiligungsrechte für Bürgerrechtsorganisationen“ oder eine Reform des obrigkeitsstaatlich geprägten Berufsbeamtentums). Gleichwohl geht diese Initiative in die richtige Richtung. Dabei bleibt abzuwarten, ob hier Profilierungsdruck und Wahltaktik die Feder geführt haben, oder ob die deutschen Sozialdemokraten jenes Maß an politischer Entschlossenheit aufbringen werden, das nötig ist, um den „Einigungsvertrag“ maßgeblich zu beeinflussen: Die Union hat jedenfalls bislang ohne Not kein deutschlandpolitisches Terrain verschenkt.
Es ist im übrigen kein Zufall, daß die SPD in den letzten Wochen viel wahltaktisches Aufhebens um die - ob ost-, west oder gesamtdeutsch: undemokratische - Fünfprozentklausel gemacht hat, statt einer demokratischen Verfassungsreform das Wort zu reden.
„Die Staatsflagge der Deutschen Demokratischen Republik trägt die Farben schwarz-rot-gold. Das Wappen des Staates die Darstellung des Mottos „Schwerter zu Pflugscharen“, heißt es in Artikel 43 des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches. So oder ähnlich mag eine befriedete Gesellschaft, die sich als allumfassende Bürgerinitiative organisiert hat, ihren Leviathan verzieren. Derweil wird, wie die Dinge liegen, der Bundesadler gewiß noch ein paar Jahre im deutschen Staatswappen flattern. Doch beklage man den Tag nicht vor dem Abend: Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gehen nicht nur für die Ostdeutschen grundstürzende Veränderungen einher. Auch auf die Westdeutschen, die fortan eben nicht mehr für sich allein Westdeutsche sein können, werden bemerkenswerte Veränderungen zukommen: Dieser Dialektik der deutschen Einheit entgeht keine schnelle „Union“ oder „Allianz für Deutschland“. Ein heute noch unbekanntes Drittes wird entstehen. Es mag sehr viel mehr Ähnlichkeiten mit der heutigen Bundesrepublik als der untergehenden DDR aufweisen
-und wird doch eine andere, eine reifere demokratische Verfassung verlangen und ausbilden, als sie uns heute mit dem Grundgesetz zur Verfügung steht.
Politische Phantasie freigesetzt
Das Vermächtnis des Runden Tisches, der Entwurf für eine Übergangsverfassung der DDR, bleibt daher, wenn auch vorläufig in den Archiven versunken, ein wesentlicher Bezugspunkt für die Verfassungspolitik in der neuen Republik. Gewachsen in einem Milieu der für kurze Zeit ungestüm hervorgebrochenen Volkssouveränität, hat er politische Phantasie freigesetzt, über die heute die Realpolitik hinweggehen mag, die ungeachtet dessen aber sich als ein Stachel gegen die triste Behauptung des Status quo in Deutschland erweisen wird. Man lege nur einmal das Grundgesetz und diesen Entwurf nebeneinander. Sehr schnell wird man gewahr, daß hier aus dem Geist der Herbstrevolution eine ganze Reihe bemerkenswerter Fragen an das Grundgesetz gestellt werden.
Ob soziale Grundrechte wie Wohnraum und Arbeit, die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe, das Frauenrecht auf „selbstbestimmte Schwangerschaft“ oder Umweltschutz als „Pflicht des Staates und aller Bürger“ sowie Verbandsklage; ob Diskriminierungsverbot wegen „sexueller Orientierung“, kommunales Wahlrecht für Ausländer und Volksentscheid, Grundrechte für Kinder, die Abschaffung der Wehrpflicht, der Schutz der Familie und „anderer Lebensgemeinschaften“, die Formulierung eines enger gefaßten Parteiverbots oder etwa Verzicht auf Staatssicherheit und Verfassungsschutz: der Entwurf des Runden Tisches birgt jede Menge politischen Zündstoff, der auch das geeinte Deutschland noch eine ganze Weile, quer zu den herkömmlichen Fronten, entzweien dürfte.
Schließlich beschränkte man sich nicht auf die Legalisierung des Mehrparteiensystems. Zudem wurden, was die politische Willensbildung angeht, die Bürgerbewegungen „als Träger freier gesellschaftlicher Gestaltung, Kritik und Kontrolle“ ausdrücklich konstitutionalisiert und mit Informations- und Teilnahmerechten ausgestattet - eine weitsichtige Antwort auf den seit geraumer Zeit Verdrossenheit hervorrufenden „Parteienstaat“. Bemerkenswerterweise wurde hier mit dem „repräsentativen Absolutismus“ des Grundgesetzes gebrochen.
Es liegt an uns, diese Anstöße aufzunehmen und in einer öffentlichen Verfassungsdebatte auszutragen. An deren Ende hat das Volk als souveräner Träger aller verfassunggebenden Gewalt darüber zu entscheiden, in welcher Form Deutschland sich als demokratische Zivilgesellschaft neu konstituieren wird. Der Entwurf des Runden Tisches ist dafür gewiß nicht das Maß aller Dinge - und es bleibt doch ein verfassungspolitisches Dokument ersten Ranges. Er stellt uns vor die Entscheidung, entweder unsere „Brüder und Schwestern“ weiterhin mit dem anmaßenden Imperativ der Assimilation zu überziehen oder aber das Vermächtnis der ostdeutschen Herbstrevolution für uns selbst anzunehmen.
Mitte Juni ist im Berliner Reichstagsgebäude mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung das Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund Deutscher Länder gegründet worden. Seine Mitglieder aus Ost und West, die vornehmlich dem links-alternativen, bürgerbewegten Spektrum, zum Teil auch der Sozialdemokratie zuzurechnen sind, streiten für eine verfassungsgebende Versammlung, die das Grundgesetz unter Berücksichtigung der Vorschläge des Runden Tisches fortentwickeln soll. Damit ist das zur Zeit klarste und weitestgehende verfassungspolitische Konzept vorgelegt worden. Mit solcher Bürger-Initiative allein ist freilich keine Verfassung zu machen. Vieles hängt davon ab, unter welchen Bedingungen die DDR den Beitritt letzten Endes erklärt und welche parlamentarischen Kräfteverhältnisse die Dezember-Wahl bringen wird.
Wenn es so etwas gibt wie gesamtdeutsche Verantwortung, liegt sie heute darin, mit langem Atem ein Reformwerk in Gang zu setzen, das, sollte es gelingen, tatsächlich die Verfassung eines neuen Deutschlands ist. Die im Zuge der Währungsunion eingeführte DM mag die Verfassungswirklichkeit einer - nicht zu verachtenden - ökonomischen Einheit stiften. Die Verfassung der politischen Freiheit indes ist mit „einer Mark für Deutschland“ nicht zu erwerben.
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