Eine längere Beschimpfung

■ Was ein Ostler schon immer gegen die Wessis loswerden wollte

Uns reicht's! Das westliche Herren- und Damenreiterbesserwissen nämlich. Noch der blödeste Wessi glaubt, jetzt endlich seinen Neger gefunden zu haben, dem er sagen kann, wo und wie es eigentlich langgeht. Gegen solcherlei allertrübestes SiegerInnengeschwätz beginnen wir heute mit unserer kleinen Haßserie. Den Ostlern das Wort! Wir laden herzlich zu Folgebeschimpfungen ein. Die erste eher verhaltene Kanonade ist von Ralf Schuler.

Man müßte die Mauer wieder aufstellen und noch zwei Meter obendrauf!“ sagt der Mann, der zuletzt an die Bar des Hotels gekommen ist und gerade seinen (Wodka) Gorbatschow mit Bitter lemon verwässert. Die Cutterin vom NDR, die jetzt neben mir sitzt, weil Thommi, der Barkeeper, ihr Glas neben meines gestellt hat, als die ewig blödelnden Schwaben gegangen sind, mustert mich verstohlen von der Seite, will meine Reaktion beobachten auf diesen im tiefsten Bewußtsein allgemeiner Übereinstimmung hingeworfenen Satz. Sie weiß, daß ich genau wie Thommi aus der DDR komme. Ich wohne noch immer dort; der jetzt unbewegt einen Drink mixende Junge hinter dem Tresen überwand die ungarisch-österreichische Grenze, als sie noch zu war, weil sie ihn konsequent abservieren wollten bei uns. Wir sehen uns zum ersten Mal, seit er wegging.

„Es gab schon Leute hier“, sagt Thommi ohne aufzublicken, „die wollten vier Meter obendrauf haben.“ Aber der Mann ist tolerant, er will sich nicht um ein paar Meter streiten. Das schätze ich an ihm. Indessen berichtet er von einem Treffen bayerischer Monarchisten, die ihren König wieder einsetzen wollen im Freistaat. Er kommt gerade von dort und tut amüsiert, die Cutterin und ich sind es tatsächlich. Später zweifle ich daran, daß er nicht zum intimeren Kreis der Neointhronisierer gehört haben will. Ich sehe auf den kleinen, mulmigen Lietzensee hinunter, der unter dem milden Sommerabend liegt. Dahinter leuchtet der Funkturm. „Wenn man auf Ihren Vorschlag zurückkommt, sollten Sie es mal auf der anderen Seite versuchen!“ sage ich dem Mann. Der lacht nur. Teste den Westen, koste den Osten...

Die sind doch im Westen auch alle genauso mehr oder weniger wie wir hier

„Und diese Typen da drüben wollen dich dafür bezahlen, daß du sie so richtig schön runterputzt?!“ fragte Trulle ungläubig, während sie sich verzweifelt bemüht, die abgefallene Lampe ihres verrosteten Fahrrades mit dem Kabel wieder anzuknoten. Ich nickte. „Daran kannst du schon sehen, daß die 'n Rad ab haben. Die haben echt zuviel Zeit und zuviel Geld. Das ist doch schon bescheuert, daß die jetzt den Ostlern sagen, los kommt, kotzt euch mal so richtig aus... Wir im Westen kaufen euch auch noch euren Frust ab. Naja, da kannst du ja richtig vom Leder ziehen, wa?“ Ich war mir der Sache gar nicht so sicher. Diese richtig bornierten Typen gibt's doch gar nicht mehr. Die sind doch im Westen auch alle genauso mehr oder weniger wie wir hier. Die einen denken eben an Knete, die anderen wollen die „working class heroes“ sein und denken immer an die Bäume zuerst... Doch das Leben belehrte mich anders, während ich noch grübelte, was man den Wessis nun alles vorwerfen könnte. Wie von selbst servierte sich der Stoff für das Pamphlet, ohne daß ich noch etwas hinzutun müßte. Es gibt sie doch noch, diese Leute, die viel zu spät kommen!

Der Mann, der als letzter gekommen war, ließ sich noch einmal Wodka auf sein Eis gießen. Sein dünnes Haar lag gut frisiert neben dem Scheitel, er mochte auf die fünfzig zugehen, der Wohlstand blähte sich als Wanne über dem Gürtel, lehnte sich keck und selbstbewußt über die Brüstung.

„Was ist denn nun eigentlich mit dieser Havelchaussee?“ führte er das selbsteröffnete Gespräch weiter. „Bald darf man ja in Berlin überhaupt nicht mehr Auto fahren. Überall diese Busspuren, die den ganzen Verkehr aufhalten...“

„Wenn man sie anders nicht dazu zwingen kann, den Wagen stehen zu lassen, bevor der Mief uns den Atem verschlägt!“ sagte ich.

„Aber ich muß doch als freier Bürger fahren können, wie ich will! Oder? Da sollen sie doch diese ganzen Trabis verbieten. Da muß man eben klar auf den Tisch hauen und sagen: So, liebe Freunde, jeder zahlt jetzt 400 Mark und läßt sich einen ungeregelten Kat in seine Pappkiste einbauen!“ Er wußte nicht, daß mein Trabi vor dem Hotel stand.

„Die sollen doch drüben mit null Komma null Promille und hundert fahren - Hauptsache, sie lassen uns mit dem Gestank in Ruhe!“

Die Cutterin vom NDR, die erfrischend ist und unkompliziert, knufft mich in die Seite. Wir bleiben alle ruhig. „Die DDR hat nicht viel einzubringen in die Einigung, aber Tempo hundert und null Komma null sollte sie den Westlern beibringen, finde ich.“

„Wissen Sie, was die DDR 'einbringen‘ kann?“ Er beugt sich bedeutungsvoll zu mir. „Die können maximal die Uhrzeit einbringen!“

Worauf mir nichts anderes übrigbleibt als: „Aber wenn man's genau nimmt, haben sie den 15. Längengrad durch Görlitz ja nur, weil der Westen in Greenwich die Nullmarke gelegt hat, sonst hätten sie nicht einmal ihren Meridian, die Ostler! Oder?!“ Das versteht er nicht.

Dann gibt es noch diese ewig Einfühlsamen...

Aber Gott sei Dank sind sie im Westen ja nicht alle so. Es gibt ja noch die anderen, diese ewig Interessierten, die sich ansehen wollen, wie denn diese Ostler nun in die D-Mark tanzen, die immer an den Brennpunkten mit dabeisein müssen. Diese ewigen Einfühler... „Das muß doch jetzt toll sein für euch, mit dem Geld und ohne die Grenze?“ oder „Wie fühlt ihr euch denn jetzt so in dieser neuen Situation...?“ Andere entdecken jetzt den Osten. Stemmen unablässig die Videokameras und nutzen die romantisch-bröckelnden Fassaden mit ihren Motor-Nikons und Autozooms ab. „Der Osten ist ja noch so urwüchsig, das gibt es ja bei uns gar nicht mehr, und vor allem dieser Zusammenhalt und diese Wärme hier, einfach schade, wenn das untergehen würde!“ - Ja, sie haben es erfaßt: Es ist so idyllisch, in einer Solidargemeinschaft Beziehungen zu pflegen, damit man die nötigen Sachen ranbekommt. Die Leute im Osten sind sicher auch heilfroh, daß bislang bei ihnen nicht der schnöde Mammon regierte, daß man mit einem gewinnenden Lächeln dem Mann in der Baustoffversorgung beim Guten-Tag-Sagen einen Schein und eine Tüte Kaffee rüberschieben konnte...

...und die, bei denen man sich wundert, daß sie einen nicht als Trittleiter benutzen...

Dann mag ich noch die Journalistenkollegen aus dem Westen, bei denen man sich wundert, daß sie einen nicht als Trittleiter benutzen, weil sie ja die eigentlich Wichtigen sind, wo was los ist. Dank umfangreicher Zeitungsfusionen können sie uns ja nun auch beibringen, wie man Zeitung macht, die Herren von der nach Analphabetentum riechenden Zeitung (da capo!, d.Korr.) und von den anderen Weltblättern. Da sind mir jene schon lieber, die offen zugeben, daß ihnen dieser ganze DDR-Piß zum Halse raushängt, und sowieso, „ohne unsere D-Mark würde ihr euch jetzt noch an den Schaufenstern die Nase plattdrücken...“ Da weiß man wenigstens, daß es Zeit ist zu gehen...

Der Mann, der zuletzt gekommen ist, erzählt von 40 Hektar Wald, die ihm nördlich von Berlin in der DDR noch gehören. Er hat sie sich schon angesehen, und der Mensch, der jetzt da drauf wohnt, hat ihm im Mai angeboten, er würde ihm den Wald abkaufen. „Ja, für wie blöd hält der mich denn? Der kann jetzt nach dem 1. Juli noch mal fragen kommen! Mal ganz davon abgesehen, daß die 27 Mark, die ich seit Jahren für den Wald drüben bekommen habe, mich nicht reich und nicht arm machen. Wissen Sie, ich habe in Südafrika 260 Quadratkilometer Land mit einer Farm drauf, da interessiert mich dieses Handtuch doch nicht. Ich bin erst seit einem halben Jahr wieder hier in Deutschland, aber obwohl ich in Berlin geboren bin, möchte ich hier um alles in der Welt nicht wohnen. Das ist ja der reinste orientalische Basar geworden. Und was macht dieser schwachsinnige rote Bürgermeister gegen die Ausländer? Aber die CDU würde ja auch nichts machen...“ Der Mann winkt resigniert ab. Die Cutterin schüttelt den Kopf. Wir kommen auf Apartheid zu sprechen.

„Das sind ja alles nomadisierende Stämme gewesen, da unten, und als sich die Weißen niederließen, war gerade keiner da. Wieso gehört den Schwarzen das Land. Und außerdem, wo sollen denn die Weißen hin, wenn die Schwarzen an die Macht kommen? Die haben doch gar keinen europäischen Paß mehr wie die Leute in Rhodesien zum Beispiel damals. Außerdem würden die sich ja selbst zerfleischen da unten. Dann machen sie fünf Jahre Schulstreik, weil sie ihre Sprache durchsetzen wollen, da kann man uns doch nicht vorwerfen, daß wir nichts für die Bildung tun! Das, was wir die Kleine Apartheid nennen, die Trennung in der Öffentlichkeit und in Restaurants usw., die gibt es ja kaum noch, aber im Zug zum Beispiel, da riechen die nun mal anders, und wir riechen anders, und da ist es doch für beide besser, jeder sitzt in einem eigenen Abteil.“

Der Juniorchef des Hotels, an dessen Bar wir sitzen, kommt dazu und stimmt mit ein. Das seien eben nun mal unterschiedliche Kulturen, die wollten auch gar nicht vermischt wohnen, so wie sich „der Arbeiter“ im Grunewald in den Villen ja auch nicht wohlfühlen würde, weil da keine Kneipe um die Ecke ist usw. Die Cutterin sagt jetzt gar nichts mehr.

Der zuletzt gekommene Mann wird einfühlsam und erklärt, daß, wenn ich eine Wohnung oder ein Haus besäße, ich doch auch darauf bedacht wäre, daß nicht durch die Nachbarschaft von zum Beispiel Türken der Wert meines Anwesens gemindert würde. Das läge doch auf der Hand. Ein Schwarzer in seiner Firma hat beispielsweise seit einem halben Jahr nicht seine kaputten Fenster reparieren lassen, weil er sagt, er ließe das Fenster sowieso immer offen, ja, dem könne man doch kein richtiges Haus anvertrauen, neben dem wolle doch keiner wohnen...

Irgendwann gehen der Juniorchef und der zuletzt gekommene Mann, und alle sind erleichtert. Und beklemmt.

...und die, die uns erklären, was wir falsch gemacht haben

Da sind mir denn doch jene lieber, die seit Jahren als tapfere Freizeitrevolutionäre an der westlichen Konsumfront die Schlachten des Sozialismus geschlagen haben und uns nun erklären, was wir falsch machen und falsch gemacht haben. Die wegen der Südafrika-Connections keinen Mercedes, sondern nur einen Golf fahren. Als Opfer gewissermaßen für die ökologische Revolution und gegen den Weltimperialismus. Die heute nach entbehrungsreichen Jahren, an denen sie engagiert und festen Blickes an den Sahnejoghurts vorübergingen und statt dessen zum garantiert biologisch gefütterten und selbstverständlich linksdrehenden Flaschenpilz griffen, die heute also unerschütterlich im Sattel ihrer Mountain-bikes sitzen und im Sommer zum dritten Mal nach Indien trampen, dieweil die Spießer im Osten so blöde sind, nach Mallorca zu jetten...

Günter Grass ist sauer, daß die verstockten Ostler einfach nicht auf ihn hören wollen und sich zu einer vielfältigen Kulturnation zusammenfinden. Sie wollen zuerst einmal nachholen, bevor man ihnen mit Vielfalt kommen kann, die möglicherweise bedeutet, daß der Westen unsere possierliche Rückständigkeit pflegt... Die Leute, die mit den Kumpels vom Gymnasium schon im Puff waren, lästern heute über die Zonis, die bei Beate Uhse Schlange stehen, mokieren sich über Billigtouren nach Paris, dieweil sie schon zur Einschulung dort waren und die 'Bild'-Zeitung seit eh und je bei Oma auf dem Küchentisch fanden, während die bescheuerten Nachhinkedeutschen sich jetzt um Springers Wurstblätter schlagen...

Vielfalt bedeutet möglicherweise, daß der Westen unsere possierliche Rückständigkeit pflegt

Besonders aber bedankt man sich in der DDR bei denen, die uns von der gewohnten Schuhsohle aus dem Backkombinat weg gleich zum Vollwertknuspermüsli, selbstgemahlen und verdaut, überreden wollen, Konsumverzicht vor dem Konsum. Die nicht begreifen, daß man erst mit unvergälltem Tomatensaft auf Gorbi anstößt, wenn man im Coke-Rausch von der bösen McDonald's-Stiefmutter den vergifteten Big Mac angedreht bekommen hat.

Und wenn wir dann gerade so schön in Fahrt sind, können gleich noch die Verkäufer von klapprigen VW-Bussen im Osten eins mit abkriegen und die Lobpreiser des Pluralismus, die immer noch glauben, mit ihren Verbalfurzen Windmühlen treiben zu können, die Anhänger der Stöckelschuhmentalität, die glauben, sobald eine Made im Apfel ist, müßte eine Häuserzeile evakuiert werden wegen Seuchengefahr, die, die mir ungehemmt von ihrem letzten Westküstentrip mit dem Rover von Ancorage bis Feuerland erzählen (denen werde ich nicht endende sozialistische Greuelstories entgegenschmettern, bis ihnen Hören und Sehen vergeht), die Handtaschen-Wallraffs, die so gut sind, uns immer neu die Grausamkeit der kapitalistischen Häscher brühwarm einzuschenken, die vom Geschirrspülmittel auf die Gesinnung schließen und anhand ihres endlosen, psychoanalytischen Bücherwissens in der Lage sind, an einem Augenaufschlag Ort und Zeit frühkindlicher Masturbation nachzuweisen, und nicht zuletzt jene, die Blut und Fäkalienorgien feiern, weil der Jetztmensch von herkömmlicher Kunst ja nicht mehr berührt wird, die abartigen Avantgardisten, die nichts bringen, aber spektakulär sind...

Nein, es ist ein einziger Sumpf jenseits der Mauer, vielleicht sollten wir sie selbst wieder zumachen!? Da kehre ich lieber an meine Bar zurück, wo zu vorgerückter Stunde zwei angetrunkene Gäste die leicht berauschte Gesellschaft mit der ulkigen Frage erheitern, wie denn der schnöde Igel auf englisch heiße. Keiner weiß es, alle grölen, eine Bombenstimmung, echt deutsche Gemütlichkeit - bis Thommi im Wörterbuch nachsieht: „hedgehog“. Zu komisch aber auch! Und die von der taz wollen auch noch, daß ich all das aufschreibe. Für Geld übrigens. Einfach widerwärtig, diese Westler...