: Da lacht die Perestroika
■ Unveröffentlichte und zensierte Karikaturen aus der
Sowjetunion sind auf einer Ausstellung in Kassel zu sehen
Von Birgitt Rambalski
Wir haben keine Zensur - das sagt doch schon alles.“ Hans Traxler sitzt zu Füßen des gebieterischen Lenin. Malerisch hat die Fernsehjournalistin den Zeichner zum Interview auf die rote Fahne vor signalrotem Schreibtisch mit schwarzem Telefon unter das Leninbild drapiert. Traxler, Karikaturist und Vertreter der „Neuen Frankfurter Schule“, soll Stellung nehmen zum Unterschied zwischen sowjetischen und westlichen Karikaturen. Er blickt auf das Stalinporträt an der gegenüberliegenden Wand, über dessen Haupt leuchtend gelb und wie ein Heiligenschein das Seil des Galgens schwebt. „Alles, was hier hängt, ist sehr viel temperamentvoller und respektloser als das, was ich aus Moskau kenne“, versichert Traxler, dessen Buch über den großen Gorbi gerade erschienen ist und der deshalb erst im Januar für einige Wochen in der Redaktion des 'Krokodil‘ in Moskau gastierte.
Zeichnungen aus dem 'Krokodil‘ (1922 gegründetes und weltweit auflagenstärkstes Satire- und Humormagazin) waren vor wenigen Monaten in Hannover ausgestellt. Sie sind bisher auch die einzigen im Westen bekannten Beispiele sowjetischer Karikatur-Kultur: ein wenig statisch, ein wenig brav, ein wenig wie bundesdeutsche Witzblätter der Fünfziger und Sechziger. Doch daß mit Glasnost und Perestroika auch in Künstlerkreisen ein anderer Wind weht, offenbarte sich lediglich den LeserInnen der 'Moskow News‘ und Insidern, die an die (allerdings auflagenschwachen) Publikationen der ersten unabhängigen Zusammenschlüsse von Karikaturisten der bisherigen Subkultur herankamen. Was sich da vorsichtig zu zeigen begann, in Sachen Aufarbeitung der Geschichte - gegen Lenin, Stalin und letztlich auch gegen Gorbatschow -, was sich über jahrzehntelange Tabus und Zensurkriterien hinwegzusetzen begann und nach einer eigenen Sprache suchte, das war in der Tat „respektloser und temperamentvoller“ als alles Vorherige.
Ein Querschnitt mit rund 180 solcher Karikaturen aus der Sowjetunion der Perestroika ist derzeit in Kassel zu sehen. Ein schillerndes Bild der Gesellschaft, die sie hervorbrachte, liefern sie nicht nur mit Schwarzweißzeichnungen, sondern auch mit Holz- und Linolschnitten, Lithografien und Radierungen - in Techniken, die das Verbot von Veröffentlichung und Vervielfältigung geschickt unterliefen.
„Die Karikaturisten waren die Vorhut der Perestroika“, behauptet Vladimir Kanevskij, der Vorsitzende des offiziellen Künstlerverbandes der Sowjetunion in Moskau. Organisiert sind in der „Abteilung für satirische Grafik“ des Künstlerverbandes rund 100, darunter vor allem die arrivierten Bildsatiriker aus den Kulturmetropolen Moskau und Leningrad und mit ihnen „Karikaturen mit Tendenz zur Hochkunst“ (Katalog). Die Aufnahme in den Verband sicherte den Künstlern Atelierräume, Altersversorgung und die Abnahme ihrer Arbeiten, die dann (ausschließlich) im offiziellen Satire-Organ, dem 'Krokodil‘, veröffentlicht wurden.
Igor Smirnov, mit einigen Zeichnungen in Kassel vertreten, ist ein solch anerkanntes Mitglied des Künstlerverbandes. Regelmäßig erscheinen seine Arbeiten in den 'Moskow News‘: Da stemmt zum Beispiel ein Männerheer die rote Fahne dem Sturm entgegen - ihre Hüte fliegen mit dem Wind - die Fahne aber, das Symbol für Perestroika, hängt schlaff und unbeweglich an ihrer Stange. Die nächste Karikatur Smirnovs, in der ein gebeugter Mann die abgerissene (in der Originalzeichnung rot colorierte) Fahne respektlos als Proviantbeutel an den Wanderstab geknüpft durch ein Unwetter schleppt, blieb bis zur Kasseler Ausstellung unveröffentlicht. „Eine Zensur als solche gibt es nicht“, sagt Smirnov in einem Film von Tilmann Wolf, der die Ausstellungsvorbereitungen und Gespräche mit den Karikaturisten in Moskau dokumentiert. Der jeweilige Redakteur entscheide über die Veröffentlichung. Mit der Entwicklung der Perestroika ergäben sich zwar viele Möglichkeiten, doch trotzdem könnten noch längst nicht alle Zeichnungen veröffentlicht werden, die vorher in den Schubladen verschwunden sind.
„Die gesellschaftliche Entwicklung ist kein revolutionärer Prozeß, sie muß sich Stufe für Stufe verändern und dann auch in den Karikaturen. Auch die Karikaturisten haben sich noch nicht verändert“, betont Valentin Rosanzev, derzeitiger Präsident der anderen, unabhängigen Interessenvertretung sowjetischer Karikaturisten, dem „Zentrum des Humors“. Mit ihr kooperieren die in den letzten Jahren entstandenen Karikatur-Clubs sämtlicher Provinzen. In ihrem eigens geschaffenen Publikationsorgan 'Utjug‘ (Bügeleisen) findet nun auch die Karikaturisten-Szene der bisherigen Subkultur ein Medium, wenn auch nur in kleiner (oft nur tausender) Auflage. Das Zentrum des Humors vermittelte auch die weitaus meisten Zeichnungen nach Kassel.
Unterstützt vom Auswärtigen Amt, vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, der Stadt Kassel und dem Kulturförderkreis Nordhessen haben die Ausstellungsmacher (Achim Frenz, Claus Heinz, Andreas Sandemann) die Karikaturen aus der gesamten Sowjetunion zusammengetragen. Kein „kritisch-komisches Spiegelbild der sowjetischen Gesellschaft“, wie sie ursprünglich hofften, kein Kaleidoskop politischer Ereignisse der vergangenen fünf Jahre, sondern eher: immer wiederkehrende Motive in unzähligen Variationen. Verkrustete, unbewegliche Bürokratie, mit dem Bürokratenarsch verwachsene Stühle; vom Sockel stürzende Lenins und Stalins, austauschbare Köpfe der Standbilder und Denkmale - wobei für den unbedarften Betrachter zu bedenken ist, das jegliche Porträts jahrzehntelang verboten waren. Das Thema Ökologie findet sich im immer gleichen Bild von kahlen, abgeschnittenen Bäumen. Sex findet nicht statt: Adäquate Metaphern gibt es (noch) nicht. Ein paar Muskelprotze im Bett, eine Anmache vor rotlichtiger Nachtbar - mehr nicht. Sowjetischer Witz, der noch bis vor kurzem den Zensor überlisten mußte - er sendet nur verschlüsselte Botschaften.
Hans Traxler berichtet von ähnlichen Erfahrungen aus der Tschechoslowakei, wo in Zeichnungen abgebildete gesichtslose Redner (Porträtverbot) nur vor einem Mikrophon gezeigt werden durften: Waren mehrere Mikros doch sicheres Indiz dafür, daß es sich um einen Funktionär handeln mußte - also wurden die übrigen Mikros rigoros geweißt.
Zentrales Thema sind jedoch die Lebensverhältnisse: Alkoholismus und Versorgungsmisere, Schwarzmarkt und Korruption. Und während die roten Sterne an der Decke der Kunst-Etage die Betrachter behutsam von Stalin und Gorbatschow, von Litauen und Tiflis über den Roten Platz mit Milchtankzügen zum Badewannenkapitän und dem dümmlich gegen die Sintflut anklempnernden Handwerker führen, drängt sich der Eindruck auf, daß wirklich etwas in Bewegung geraten ist. Die Organisatoren, die die Ausstellung bis 1993 im Westen auf Wanderschaft schicken, wollen sie ständig aktualisieren. Ein sowjetisch-deutscher Karikaturistenaustausch ist für Herbst geplant.
Karikaturen aus der Sowjetunion, bis 30. August 1990 in der Kunst-Etage, Kassel (neben dem Fridericianum), Katalog: Verlag Jenior & Preßler, 19,80 DM
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