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Wofür Respekt?

■ betr.: "Opposition im Dilemma", taz vom 18.7.90

betr.: „Oppositon im Dilemma“, taz vom 18.7.90

Verdutzt liest man in der Presse, Antje Vollmer und Willi Hoss zollten für die Fraktion dem Bundeskanzler Respekt. Wofür wohl? Hat Kohl mit Gorbatschow die Entmilitarisierung Deutschlands oder auch nur die Abschaffung der Wehrpflicht vereinbart? Hat er großzügige Reparationszahlungen und Entschädigungen für die Zwangsarbeiter angekündigt? Hat er eine weitgehende Föderalisierung Deutschlands zugesagt? Hat er den baldigen Abzug sämtlicher ausländischer Truppen aus Deutschland verabredet? Hat er mit Gorbatschow wenigstens ein großes Hilfsprogramm für den ökologischen Umbau der Sowjetunion vereinbart?

Verwirrt liest man die Erklärung des Bundeskanzlers nach: Nichts von alledem. Deutschland erhält eine starke Zentralregierung, die Wehrpflicht bleibt erhalten, die Armee wird 370.000 Mann umfassen (und damit dreieinhalbmal so stark sein wie die Weimarer Armee). Und die alliierten Truppen dürfen diese Stärke quantitativ und qualitativ verdoppeln und ihre Truppen nach vier Jahren an die Oder verschieben. Kurzum: Kohl hat mit vagen Versprechungen und einem Fünf-Milliarden-DM-Kredit großdeutsche Interessen maximal durchgesetzt. Genau das, was man von unserer Regierung erwarten mußte - kein Grund, sich moralisch aufzuregen.

Aber Respekt dafür? Wenn Schlesien und Ostpreußen in zehn Jahren für angenommen 50 Milliarden DM zu kriegen sind und die dort ansässige Bevölkerung aus Verzweiflung über ihre materielle Situation den Anschluß sogar verlangen würde? Auch ein Grund für Respekterweisungen? Zur Zeit der Reichsgründung 1871 saßen Leute wie Bebel und Liebknecht im Gefängnis. Das vierte deutsche Reich, diesmal nicht mit Blut, sondern mit Geld, einem haltbaren Stoff, gegründet, braucht solche Repressionen nicht. Aber deswegen diesem Gründungsakt die Ehre zu erweisen? Es bleibt der Wunsch an den Kanzler, „die Einigung Europas“ voranzutreiben - diesem Wunsch wird Kohl gerne entsprechen: Wird sich die Vorherrschaft des deutschen Kapitals in einem geeinten Europa doch noch leichter durchsetzen als in einem ungeeinten. Zum Glück heißen aber die Sprecher unserer Partei nicht Vollmer und Hoss, sondern Ströbele und Heidi Rühle. Und ihre „einfallslosen verbalradikalen“ Äußerungen entsprechen der politischen Linie unserer Partei. Ansonsten wäre diese reif zur Auflösung.

Giselher Rüdiger, Sprecher der Kreisgruppe Aschaffenburg, Die Grünen, Heigenbrücken (BRD)

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