: „Ganz miese Rolle“ der Westkonzerne in der DDR
■ DDR-Handelsministerin Reider: Versorgungslage ist beinahe stabilisiert
Berlin (dpa) - Nach den Turbulenzen im DDR-Handel in den ersten Wochen der Währungs- und Sozialunion hat sich die Versorgung der DDR-Bevölkerung nach offiziellen Angaben jetzt weitgehend stabilisiert. Es gebe aber immer noch ein sichtbares Stadt-Land-Gefälle, erklärte die DDR-Ministerin für Handel und Tourismus, Sybille Reider (SPD), am Montag. In den ländlichen Gebieten seien Südfrüchte, Konserven und Fertiggerichte nach wie vor kaum erhältlich. Aber auch in den Städten seien nicht alle Probleme gelöst. Dort klappe es oftmals nicht mit der Anlieferung von Milchprodukten und anderer Frischwaren, beispielsweise Brot. In drei bis vier Wochen sollten die Probleme jedoch gelöst sein, sagte Frau Reider vor JournalistInnen.
„Eine ganz miese Rolle“ bescheinigte sie den westdeutschen Handelsketten. Nur 30 Prozent der geforderten Waren seien geliefert worden, die Ketten hätten sich bei ihrem Einzug in die DDR „wahnsinnig übernommen“. Für Dienstag kündigte sie ein klärendes Gespräch an. Innerhalb von drei Wochen will sie noch bestehende Versorgungsprobleme in der DDR vom Tisch haben und verstärkt die Vermarktung von DDR-Produkten fördern.
Bei Kindernahrung gebe es den Verdacht, daß „westliche Firmen ein gewisses Preisdiktat ausüben“, sagte Reider. Hier soll das Amt für Wettbewerbsschutz eingeschaltet werden. Hinsichtlich der Entflechtung der Handelsbetriebe setze sie auf Privatisierung, sagte die SPD-Politikerin. Es nütze aber nichts, die Verkaufskollektive rauszuwerfen „und die westdeutsche Kette treibt dann wieder die Preise in die Höhe“, betonte sie. „Ein gesunder Wettbewerb läßt sich nicht aus dem Boden stampfen“, umriß sie die Umstellungsschwierigkeiten von Handel und Produktion in der DDR.
Bei den Preisen biete sich noch kein einheitliches Bild. Während sich das Preisniveau in einigen Regionen dem im Westen angepaßt habe oder sogar darunter liege, seien - so die Ministerin - in einigen südlichen DDR-Bezirken teilweise noch immer extrem hohe Preise zu beobachten. Aber auch dort gerieten Preise für Lebensmittel mitunter kräftig ins Trudeln.
So mußte etwa in Zwickau und Plauen für das Kilogramm Kotelett vergangene Woche statt zwölf DM nur noch 9,40 DM bezahlt werden. Der Kilopreis für das früher in der DDR so gut wie nicht erhältliche Rinderfilet sank nach Angaben des Handelsministeriums von 43,20 DM auf 25,63 DM, der für Kochschinken um fast die Hälfte von 24,90 auf 13,63 DM.
Der Preis für ein Kilogramm Mischbrot fiel von 2,60 auf 1,99 DM. DDR-weit reduzierten sich die Handelsspannen auf zehn bis 25 Prozent.
Butter pendelte sich bei 1,80 DM bis 2,00 DM für das halbe Pfund ein und wird damit nach den Worten Frau Reiders in vielen Regionen derzeit ohne Handelsspanne verkauft. Um den Ankaufspreis für den Handel zu senken, sollen jetzt entsprechend dem Regierungsprogramm zur Stabilisierung der Landwirtschaft die DDR-Molkereien mit staatlichen Mitteln gestützt werden. Produktgebundene Stützungen soll es allerdings nicht mehr geben.
Nach Ansicht der Ministerin bedürfen insbesondere die Preise für Babynahrung einer dringenden Klärung. Es bestehe der Verdacht eines Preisdiktats westlicher Anbieter. Insbesondere der Nestle-Konzern „macht extreme Preise“, sagte Frau Reider. Der Großhandel arbeite mit 100prozentigen Handelsspannen.
Unzufrieden äußerte sich die SPD-Politikerin mit dem kürzlich von der Volkskammer verabschiedeten Gesetz zur Entflechtung des Handels. Das Gesetz habe zu einer Verunsicherung des Handels und in einigen Regionen zu zeitweiligen Lieferstops geführt. Die Minsiterin betonte, daß lediglich das von den Handelsorganisationen (HO) in der DDR genutzte kommunale und staatliche Eigentum neu ausgeschrieben werden solle. Genossenschaftliches Eigentum werde nicht angetastet. Auf jeden Fall müsse bei Ausführung des Gesetzes eine kontinuierliche Versorgung der Bevölkerung sichergestellt bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen