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Nach Zivildienstverkürzung Pflegenotstand

■ Kürzere Zivildienstzeit mit fatalen Folgen für Pflegedienste: Ein Drittel der Zivildienstleistenden wird fehlen / Wohlfahrtsverbände sind ratlos und schlagen Alarm / Abhilfe nur mit besserer Bezahlung

Von Axel Kintzinger

Berlin (taz) - Anette Albrecht findet es eigentlich sehr erfreulich, daß auch die Zivildienstleistenden von der Verkürzung der Wehrdienstzeit profitieren. Nur noch 15 Monate statt der bisherigen 20 dauert nun der zivile Ersatzdienst. Vorbehaltlos ist die Freude der 24jährigen Bürokauffrau jedoch nicht. Anette Albrecht leidet unter der Glasknochenkrankheit, ist in ihrem Alltag - vom Aufstehen über die Zubereitung des Essens bis zum Transport von und zur Arbeit - auf die Hilfe von Zivis angewiesen und befürchtet nun, daß Engpässe in ihrer Betreuung entstehen könnten. Die Zahlen sind alarmierend genug: Von 117.000 vorhandenen Zivildienstplätzen sind nach Angaben des Bundesamtes für Zivildienst (BAZ) nur 89.193 besetzt - und durch die Dienstzeitverkürzung würden es noch 27.000 weniger.

Den beteiligten Institutionen und Verbänden geht es wie Anette Albrecht: Ob BAZ, ob Zivildienst-Bundesbeaufragter Peter Hintze oder die Spitzen der Wohlfahrtsverbände: Alle freuen sich ob der Verkürzung für die Zivis, und alle stehen einigermaßen ratlos vor dem Problem einer drohenden Unterversorgung. Caritas-Sprecher Thomas Broch will keine Panik verbreiten: „Die Sicherung des sozialen Netzes ist nicht gefährdet.“ Allerdings verschärfe sich die Personalsituation schon „seit einiger Zeit“, jetzt könne es noch enger werden. Krankenpfleger seien nur schwer zu finden, und von den vorbehaltenen 20.000 Zivildienstplätzen sind momentan nur 16.000 besetzt. Beim Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) arbeiten derzeit 17.500 Zivildienstleistende. Die Organisation ist von der neuen Entwicklung überrascht worden und DPWV-Sprecherin Inge Niemeyer befüchtet „schwerwiegende Folgen“, denn die Zivis bilden in diesem Verband einen „wesentlichen Faktor“ der Pflegearbeit. Besonders prekär dürfte die Lage vor allem in der Versorgung Schwerstbehinderter werden - dort werden ohnehin nur Zivis eingesetzt, die sich freiwillig für diesen schweren Dienst melden.

Karl-Heinz Neukamm, Präsident des Diakonischen Werkes in der BRD, hat das Problem erkannt und fordert nachrücklich Maßnahmen. In einem Interview mit der 'Neuen Osnabrücker Zeitung‘ hat er gestern Bundeskanzler Kohl aufgefordert, Bund, Länder, Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Krankenkassen zu einer gemeinsamen Aktion gegen den Pflegenotstand zusammenzurufen. Neukamm schätzt den Bedarf an zusätzlichen Pflegekräften in den kommenden Jahren auf über 70.000. Diese „dramatische Lücke“, die durch den Rückgang der Zivildienstleistenden mitverursacht werde, könne nur durch „Anwerbung ausländischer Pflegekräfte und eine deutlich bessere Bezahlung“ geschlossen werden. Neukamm schlägt vor, Schwestern und Pfleger künftig „wie junge Ärzte“ zu bezahlen. Nur so könne dem Trend, wonach Bewerbungen für Pflegeberufe um 42 Prozent zurückgegangen seien, entgegengetreten werden.

Auch bei der Caritas überlegt man, „den Stellenschlüssel zu erweitern“ und „die Tarifstruktur zu verändern“. Für den Pflegerberuf findet sich vor allem auch wegen der als unzureichend empfundenen Bezahlung kein ausreichender Nachwuchs mehr. Caritas und Diakonisches Werk wollen dem mit einer Werbekampagne abhelfen. Bis die jedoch greift, werde man auf das Einverständnis der jetzt schon Beschäftigten zurückgreifen müssen, Überstunden zu schieben. Und: Die beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbände wollen einen Wandel im öffentlichen Bewußtsein erreichen - mit dem Ziel, wieder mehr Menschen zu ehrenamtlicher Pflege zu überzeugen.

Anette Albrecht wollte nicht so lange warten und wandte sich in der letzten Woche mit einem Brief an die zuständigen Politiker. Sie erwartet eine „Rechtfertigung all denen gegenüber“, die von der Verkürzung auch der Zivildienstzeit betroffen sind. Eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der Wohlfahrtsverbände, des BAZ und des Ministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit will sich aus diesem Grund in den nächsten beiden Wochen treffen.

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