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Paradies und Hölle im Regenwald

Berlin (taz) - Sieben Millionen Quadratkilometer Tropische Regenwälder bedecken die Erde. In der immergrünen, feuchtwarmen, dampfenden Hölle erreicht der Pflanzenwuchs Rekordwerte von 1.000 Tonnen pro Hektar. Obwohl die Regenwälder nur drei Prozent der Erdoberfläche ausmachen, erzeugt ihre Blattmasse fast ein Drittel der gesamten Brutto -Primär-Produktion der Erde. „Die immergrünen Regenwälder leisten damit, bemessen am (Energie-) Umsatz, genausoviel wie der gesamte offene Ozean, der über 65 Prozent der Erdoberfläche bedeckt.“ Wenn nun ein weiteres Drittel der Regenwälder zerstört wird, dann entspricht dies der Vernichtung von einem Drittel der Weltmeere, also etwa des gesamten Atlantischen Ozeans.

Eindrucksvolle Vergleiche, die den großartigsten Lebensraum dieser Welt beschreiben. Und doch locken diese Zahlen einen auf die falsche Fährte. Hier entsteht schnell das Bild eines üppigen, ungeheuer fruchtbaren Lebensraums, in dem es überall kreucht und fleucht, wo die Vögel in Scharen zwischen den Baumriesen umhersegeln, die Affen sich früchteschälend von Liane zu Liane schwingen, während der Tiger neben dem abgenagten Knochen satt und faul in der Mittagssonne döst, vom betörenden Duft der Orchideen umweht. Über Jahrzehnte hat sich diese Vorstellung des Regenwaldes als Paradies für Pflanze und Tier etabliert.

Nachhaltig erschüttert wird diese beschauliche Sicht auf die Dinge durch den Münchner Evolutionsbiologen und Regenwaldforscher Josef Reichholf. In seiner Analyse der „Ökobiologie des artenreichsten Naturraums der Erde“ beschreibt er eindringlich und mit Herzblut die Einmaligkeit und zentrale Bedeutung dieses faszinierenden Lebensraums. Zugleich wirft er aber die gängigen Vorstellungen vom Tropischen Regenwald völlig über den Haufen. Seine zentralen Thesen:

-Der Tropische Regenwald ist von chronischem Nährstoffmangel gekennzeichnet.

-Die Mangelsituation ist der eigentliche Motor der Evolution. Sie hat die Tiere und Pflanzen zu erstaunlichen Anpassungsleistungen und damit zur Ausbildung der riesigen Artenvielfalt gezwungen.

-Der Nährstoff-Kreislauf im Regenwald ist im Vergleich zu anderen Wäldern und Biotopen grundsätzlich anders strukturiert. Er funktioniert als geschlossener Kreislauf, der kaum Nährstoffe abwirft und keine „Nutzung“ ermöglicht.

Ausgangspunkt der Überlegungen sind für Reichholf immer wieder die neuen Befunde über den Artenreichtum des Regenwaldes. Allein im Tropischen Regenwald Südamerikas lebt ein Sechstel des Weltartenbestandes. Alle Regenwälder zusammen sind sogar der Lebensraum für ein Drittel aller Arten, bei den Vögeln für die Hälfte. In den letzten beiden Jahren sind die Schätzungen über den Artenbestand nochmals gewaltig nach oben korrigiert worden. „Der Artenbestand aller Tiere der Erde bewegt sich im Bereich zwischen etwa 20 und 80 Millionen. Den allergrößten Teil davon stellen die Insekten und davon lebt wiederum der allergrößte Teil im Tropischen Regenwald.„

Kein Vogel zwitschert, kein Affe turnt

Doch das Artenreichtum geht mit einer irritierenden Seltenheit an Tieren einher. So fanden die Forscher auf zehn Regenwaldbäumen zwar 2.800 verschiedene Gliedertierarten, aber insgesamt nur 24.000 Einzel-Exemplare. Noch augenfälliger ist die Seltenheit bei den Vögeln. Stundenlang, so schreibt Reichholf, könne man in Zentralamazonien auf Waldpfaden unterwegs sein, ohne nur einen einzigen Vogel zu sehen oder zu hören. Auch bei den Insekten korrespondiert die Unzahl der Arten mit sehr geringen Beständen: Der Regenwald ist ausgesprochen insektenarm. Oder die Affen: Selbst in gut bestückten Regionen des Regenwaldes sind pro Quadratkilometer gerade 30 Kilogramm Affe zu finden, das entspricht einem einzigen Paar Graulanguren. Die Waldgiraffe Okapi wurde aufgrund ihrer Seltenheit erst 28 Jahre nach der ersten Spurensuche als letztes Großtier entdeckt. „Viele der heute gefährdeten größeren Säugetiere leben im Tropischen Regenwald, aber es ist (aufgrund ihrer Seltenheit) fast unmöglich, Vorstellungen über ihre Bestandsgrößen zu gewinnen.“ Nimmt man alle Tiere zusammen, ergibt sich ein krasses Mißverhältnis. Dann erreicht die Biomasse der Pflanzen auf einem Hektar Regenwald zwar 1.000.000 Kilogramm, die der Tiere aber nur 35 Kilogramm. Tiere sind in Relation zur Pflanzenmasse „so gut wie nicht vorhanden“.

Reichholf legt noch einen anderen Befund vor. Die Tiere im Regenwald haben einen sehr geringen Energieumsatz. Sie bewegen sich träge und: sie werden viel kleiner als ihre Artverwandten in anderen Biotopen. Ob Elefanten, Giraffen oder Antilope: Die Regenwaldausgabe ist immer deutlich kleiner im Wuchs und leichter im Körperbau. Tiger aus dem südostasiatischen Regenwald wiegen nur maximal 120 Kilo, sibirische Tiger fast 300 Kilo. Die Erklärung für all diese Beobachtungen ist einfach und zugleich verblüffend. Es gibt keinen Überfluß im Regenwald, sondern äußerste Nährstoffknappheit. Dies gilt nicht für Kohlehydrate, aber ganz besonders für Eiweiß und Mineralien. Verursacht wird dieser Mangel durch den einmaligen Nährstoff-Kreislauf dieses Bioms.

Untersucht man den Boden im Regenwald mit seiner auffällig schmalbrüstigen Humusauflage, dann zeigt sich, daß der Wald zwar prächtig und üppig gedeiht, daß aber im Boden kaum Nährstoffe umgesetzt werden und deshalb für die Insekten wenig zu finden ist. Die Antwort darauf heißt „Wurzelpilzsymbiose“. Die extrem flachen Wurzeln der meisten Bäume im Regenwald leben in Gemeinschaft mit Pilzen. Haarwurzeln und Pilze spannen ein geschlossenes Netz über die obersten Bodenschichten, das „so gut wie alle Pflanzennährstoffe abfängt, die von oben kommen. Sie leiten diese (Nährstoffe) an die Bäume weiter, die sie bis in die höchsten Spitzen der Kronen hinaufverfrachten.“ Dieses Sofort-Recycling ist zwingend: Am Boden würden die Nährstoffe durch die starken Regenfälle schnell ausgeschwemmt werden. Die Bäume besitzen neben dem pilzgesteuerten Sofort-Recycling noch ein anderes Mittel, um Nährstoffverluste auszugleichen: Die Nährstoffrückführung aus alternden Blättern. Bevor ein ausgedientes Blatt auf den Boden fällt, wird ihm mehr als die Hälfte der Mineralien Phosphor, Kalium, Kalzium und Magnesium vom Baum wieder entzogen.

Für die Tierwelt hat der Nährstoff-Mangel weitreichende Konsequenzen. Er führt zu einer ungeheuren Spezialisierung und Artenausbildung und zu raffinierten Überlebenstechniken. Das ausgeklügelte soziale Zusammenspiel von Ameisenstaaten, die Mimikry vieler Tierarten, die ganze Farben- und Formenpracht sind nichts anderes als höchst individuelle Anpassungsleistungen, um im perfekt organisierten Mangelsystem Regenwald zu überleben. Dieses Mangelsystem hat ein Wettrüsten der Evolution ausgelöst.

Reichholf beschreibt an vielen Tierarten diese Anpassungsleistungen. Die auffallend langen Entwicklungszeiten der Großinsekten gehört dazu, die viele Jahre brauchen, um wenige Gramm Körpergewicht aufzubauen, aber auch das schillernde Kleid des Morpho. Wenn dieser Großfalter durch den Regenwald fliegt, also durch Lichtbündel und Halbdunkelheit, verursachen seine Schillerfarben einmal grelle Lichtreflektionen, dann wieder tauchen sie im Dunkel unter, dann wieder blenden sie, und niemand vermag ihrem Flug zu folgen. Nicht einmal die immer hungrigen Vögelein.

Der Tropenwald als gigantische Chemiefabrik

Auch die auffälligen Farben vieler mit Abwehrsekreten ausgestatteten Insekten und Kleintiere sind Warnhinweise an die Vögel. Friß mich nicht, ich schmecke gräßlich. Auch die Pflanzen und Bäume verfügen im nährstoffarmen Tropenwald über solche Mechanismen. Der Not gehorchend, macht das grüne Paradies „die unglaublichsten Erfindungen, um sich zu schützen. Der Tropische Regenwald ist das mit Abstand größte und vielfältigste Chemielabor der Erde. Der Artenvielfalt entspricht also die chemische Vielfalt an pflanzlichen Inhaltsstoffen. Da aber grundlegende Nährstoffe wie Phosphor und Kalium so knapp sind und der Kreislauf so gut wie möglich geschlossen bleiben muß, um sowenig wie möglich davon zu verlieren, können die Pflanzen auch so gut wie keine Nutzung vertragen. Die chemische Vielfalt setzen sie als chemische Abwehr ein“. Sie entwickeln Gifte oder gehen Symbiosen mit Tieren ein, die sie mit ihrem Gift oder mit anderen Waffen schützen. Wo es nur eine geringe Nutzung für hochangepaßte Spezialisten des Tierreichs gibt, die in unzähligen Nischen existieren, kann es sie auch nicht für den Menschen geben. Abgeholzte Regenwaldgebiete sind landwirtschaftlich wertlos. Der wenige Humus wird vom Regen schnell abgetragen, und schon muß ein neues Waldgebiet abgeschlagen werden. Statt Nutzung nur nutzlose Ausbeutung. Die Vernichtung der Regenwälder entspricht pro Jahr der Fläche der Bundesrepublik. Wird in der Fläche eine kritische Grenze unterschritten bricht das gesamte System zusammen. Es wäre das Ende eines Paradies, das nur deshalb Paradies ist, weil es zugleich eine Hölle ist. Erst die Armut (der Nährstoffe) schafft den ungeheuren Reichtum der Arten.

Manfred Kriener

Josef Reichholf, „Der Tropische Regenwald“, dtv, München 1990, 12.80 DM

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