: Ungarn: Inflation und neue Armut
■ Experten legen pessimistische Studie zur magyarischen Wirtschaft vor
Budapest (dpa) - Ein pessimistisches Bild von der wirtschaftlichen Zukunft Ungarns zeichnet die Studie einer Gruppe von Wirtschaftsexperten. Der „Bericht aus dem Tunnel“ wirft der konservativen Regierung „Überoptimismus“ vor und prognostiziert ein Anschwellen der Inflationsrate bis zu 100 Prozent pro Jahr. Die Regierung dagegen will die Rate von gegenwärtig fast 20 Prozent innerhalb der nächsten Jahre auf eine einstellige Zahl absenken.
Die vorliegenden Fakten sind keineswegs ermunternd: Die industrielle Produktion Ungarns sank im Vorjahresvergleich in den ersten fünf Monaten 1990 um 9,9 Prozent, die Zahl der Beschäftigten um 8,2 Prozent. Gestiegen sind die Preise für Industrieerzeugnisse um 18,6 Prozent. An Agrarerzeugnissen sei wertmäßig 10,7 Prozent weniger abgesetzt worden. Mit durchschnittlich 32,5 Prozent war der Preisanstieg bei Lebensmitteln besonders drastisch. Für Heizung und Strom mußte die Bevölkerung 25,7 Prozent mehr Mittel aufbringen als im gleichen Zeitraum des Vorjahres, Dienstleistungen, wie öffentliche Verkehrsmittel und Postdienste, wurden um 30 bis 150 Prozent teurer.
Der Index der Verbraucherpreise stieg um durchschnittlich 25,3 Prozent. Erst in den letzten Tagen wurden die Preise für Treibstoff, Tabakwaren und Spirituosen drastisch erhöht.
Die Arbeitslosigkeit ist in den vergangenen Monaten zum sozialen Problem geworden. Die Regierung rechnet Ende 1990 mit bis zu 100.000 Beschäftigungslosen und fürchtet eine Gefährdung der gesellschaftlichen Stabilität bei einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf über 20 Prozent. In Ungarn gibt es immer mehr „neue Arme“. Der Lebenstandard ist in den letzten Jahren auf das Niveau des Jahres 1973 gesunken, durch die Preiserhöhungen und die Einführung von Lohn- und Einkommensteuern fielen fast eine Million Ungarn, das sind zehn Prozent der Bevölkerung, unter die offizielle Armutsgrenze.
Die vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank diktierte restriktive Finanzpolitik soll dazu beitragen, die 19 Milliarden Dollar hohe Schuld im Westen abzutragen. Ungarn ist das pro Kopf am höchsten verschuldete Land im ehemaligen Ostblock. Hoffnungen für die Konkurrenzfähigkeit der ungarischen Wirtschaft innerhalb eines gesamteuropäischen Konzepts sieht die Studie nur bei der rigorosen Durchsetzung von Reformmaßnahmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen