: Ostberliner Drähte- republik gekappt
■ Chiffriermaschinen in Geheimräumen der Bezirksämter und im Roten Rathaus bis vor kurzem „voll in Funktion“ / Direktleitungen ins Innenministerium
Ost-Berlin. Das Ambiente erinnert an Agentenfilme, die Story nicht minder: Ost-Berlins Innenstadtrat Krüger (SPD) lud in seine abgeschotteten Diensträume in Hohenschönhausens Ferdinand-Schultze-Straße 55, wo bis vor einiger Zeit die Antiterroreinheit des Stasi-Obersts Franz logierte, um ein bis letzte Woche funktionierendes Informationnetz der ehrenwerten Gesellschaft „vorzustellen“. Aus Geheimräumen in zehn Ostberliner Bezirksämtern schickten Fernschreiber chiffrierte Nachrichten ins Innenministerium und ins Rote Rathaus. Weder er noch die Bezirksbürgermeister hätten Kenntnis von den verborgenen Nachrichtenbüros gehabt. Bis zu ihrer Entdeckung in der letzten Woche hatten allein Ex-MfS -Mitarbeiter Zutritt zu diesen Räumen. Über den Inhalt der Nachrichten wisse man nichts. Fest steht mittlerweile, daß die Kodiermaschinen von der Stasi installiert wurden und bestimmte Ratshausmitarbeiter in regelmäßigen Abständen „GVS„-Akten (geheime Verschlußsachen) aus den Rathäusern abschickten. Daß die Drähte im Innenministerium und im Amt des Ministerpräsidenten zusammenlaufen, liegt für Krüger ebenfalls auf der Hand: In Hohenschönhausen konnte er die Kettenreaktion dingfest machen. Als von besagtem Fernschreiber eine Nachricht versandt wurde, standen binnen einer halben Stunde sowohl ein Kontaktmann im Magistrat wie aus dem Amt des Ministerpräsidenten „auf der Matte“: „Man kann davon ausgehen, daß alle Bezirksämter und auch das Rote Rathaus noch verwanzt sind.“
Alarmiert wurde Krüger letzte Woche durch die Bürgermeister, die alle - so Pankows Amtschef Lüderitz erst auf massiven Druck in den Besitz der Türschlüssel gekommen seien. Wie der Leiter der inzwischen gebildeten Arbeitsgruppe beim Innenstadtrat, Quandt, erklärte, seien die Fernschreiber laut Ministerratsbeschluß vom November 1983 eingerichtet worden. Noch Ende Mai habe der ehemalige technische Beauftragte für die Kodiermaschinen bei der Stasi den Beschluß „unterstützt“. Ihm sei bei seinen Recherchen im Innenministerium noch mit den Worten gedroht worden: „Wenn Sie so weitermachen, bekommen Sie es mit dem Staatsanwalt zu tun.“
Die in den Geheimräumen „diensthabenden Mitarbeiter“ seien enttarnt worden, erklärte Krüger. Gegen sie werde man jetzt auf dem Rechts wege ermitteln. Ebenso werde man das „System der Diensthabenden“ (Rund-um-die-Uhr-Besetzung in den Rathäusern) überprüfen. Es sei auffällig, daß auf diese Posten in der letzten Zeit viele ehemalige Stasi -Mitarbeiter „gedrückt“ worden seien. In diesem Zusammenhang wunderte sich Krüger über die „ungewöhnlich gut informierte PDS-Fraktion“ im Roten Rathaus, die „Detailkenntnisse aus vertraulichen Magistratssitzungen“ habe. Krüger bezeichnete die „funktionierende technische Info-Spinne“ zwar als einen politischen Skandal, eine „neue Staatssicherheit“ sehe er durch die übriggebliebenen „freischaffenden Spitzel“ nicht.
Schwere Vorwürfe richtete Krüger an Innenminister Diestel. Seit Tagen versuche er eine Stellungnahme des Ministers zu diesen Vorfällen zu bekommen. „Die Zusammenarbeit diesbezüglich ist katastrophal.“ Er könne sich nicht vorstellen, daß dem Innenminister diese Drähte aus den Zeiten der Zusammenarbeit der Stasi mit seinem Ministerium verborgen geblieben seien.
nana
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