: Wie leicht kann man Zahlen fälschen?
betr.: „Auschwitz: Wieviele wurden umgebracht?“, „Streit um Zahl der Auschwitz-Opfer“, „Auschwitz und die Zahlen“ (Kommentar von Götz Aly), taz vom 18.7.90
In Ihrer Ausgabe vom 18.7.90 veröffentlichen Sie einen Artikel in dem Sie berichten, daß nach jüngsten Untersuchungen die Zahl der Auschwitz-Ermordeten nicht vier Millionen Menschen betrug, sondern nur 1,5 Millionen. Der Leiter der geschichtlichen Abteilung des Auschwitz-Museums Franciszek Piper nimmt aufgrund von verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Angaben an, daß 960.000 Juden, 70.000 bis 75.000 Polen, 21.000 Zigeuner und 15.000 sowjetische Gefangene getötet wurden. Er stützt sich dabei auf die numerierte Zahl der Gefangenen und die Korrespondenz über Transporte nach Auschwitz, sowie auf statistische Angaben (Daraufhin habe man die Tafel mit der Zahl von vier Millionen Opfern entfernt).
Immerhin hatte einer der Organisatoren der Judenvernichtung, Adolf Eichmann, 1961 während seines Prozesses in Israel von 2,5 Millionen Juden gesprochen, die in Auschwitz-Birkenau vernichtet wurden. 1944 hatte er sich in Budapest noch gebrüstet, daß es sechs Millionen waren. Es ist doch nicht anzunehmen, daß Eichmann die Anzahl der Opfer von Auschwitz um fast das dreifache multipliziert hat. Auch der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, hat bei seinen ersten Vernehmungen vor Gericht die Zahl von über 2,5 Millionen vergasten Juden genannt. Ein Jahr später reduzierte er vor einem polnischen Gericht die Zahl auf 1,3 Millionen.
Es gibt ein offizielles an Himmler gerichtetes Dokument, das am 1. Januar 1943 erstellt wurde. Dort wurde ihm mitgeteilt, daß in den Jahren 1941 und 1942 2,4 Millionen Juden „evakuiert“ oder „sonderbehandelt“ wurden. Da man annimmt, daß in Treblinka und Lublin etwa eine Million Juden vernichtet worden waren, ergibt sich, daß etwa eine weitere Million zu dieser Zeit in Auschwitz umkamen.
Die Frage ist, wieso ausgerechnet ein Historiker zu einer solchen Behauptung gelangen konnte. Das ist gar nicht so schwierig zu erklären. Herr Piper hat entsprechend der Mitteilung seine Angaben auf der numerierten Zahl der Gefangenen und vorliegenden statistischen Daten aufgebaut, obgleich ja behauptet wird, die Sowjetarmee hätte alle Unterlagen mitgenommen und nicht wieder herausgegeben. Alle diejenigen aber, die in Auschwitz bei der Ankunft direkt ins Gas gingen, erhielten keine Nummer und wurden nicht registriert.
Ein Beispiel: Bis zum 16. Dezember 1942 wurden 23.822 Zigeuner nach Auschwitz eingewiesen. Registriert wurden nur 20.943. Es fehlt eine Gruppe, von der anzunehmen ist, daß sie sofort ins Gas gesandt wurde, weil die Mitglieder verlaust waren.
Immer wieder finden wir in der Literatur die Angabe, daß die letzten Zigeuner in den ersten Augusttagen 1944 ins Gas getrieben wurden. Über weitere Aktionen scheinen keine Dokumente vorzuliegen. Ich selbst aber befand mich Ende August im Durchgangslager Birkenau B II. Im Lager neben uns waren Zigeunerfrauen mit ihren Kindern. Sie kamen jedenfalls nicht aus Deutschland, denn wir konnten uns mit ihnen nicht verständigen. In den letzten Augusttagen wurde dieses Lager geräumt und zwei Nächte lang sahen wir die Schornsteine der Verbrennungsöfen rauchen. Herr Piper wird bestimmt einwenden, daß keinerlei Listen vorliegen, so daß ich mich getäuscht haben kann. Ich kann ihm allerdings nicht das Gegenteil nachweisen.
Völlig unverständlich ist mir aber die Behauptung des Schriftstellers Götz Aly, der erklärt, die Historiker hätten schon lange gewußt, daß die Zahlen über Auschwitz unrichtig seien. Gemeinsam mit Susanne Heim hat er dargelegt, daß die Ausmerzung der zehn Millionen Menschen dieser Politik zum Opfer fielen. - Daß die Gaskammern in Auschwitz eingerichtet wurden, weil man mit den Massenerschießungen und der Tötung in Bunkern und Spezialfahrzeugen mit Hilfe von Auspuffgasen einfach nicht schnell genug vorankam, wird er wohl kaum bestreiten. Die Gaskammern in Auschwitz konnten bis zu 20.000 Menschen pro Tag verarbeiten. Sie haben seit dem Winter 1941/42 bis zum Oktober 1944 funktioniert. Während aber in den Jahren 1942 und 1943 ganze Transporte aus Holland, Frankreich und Griechenland direkt ins Gas geschickt wurden, begann man 1944 die jüngeren noch verwendungsfähigen Juden für den Arbeitseinsatz in der deutschen Industrie aufzusparen. Gerade unter den ungarischen Juden, die im Sommer 1944 in Auschwitz eintrafen, gab es überwiegend junge und gesunde Menschen, für die Auschwitz nur ein Durchgangslager war. Wenn also Herr Aly behauptet, daß die übertrieben hohen Zahlen unter dem Eindruck der Ungarn-Aktion im Sommer 1944 entstanden sind, so kann ich nur sagen, daß ein gründiches Studium des Schicksals dieser Gruppe bestimmt Herrn Aly belehren wird, daß er mehr als oberflächlich urteilt und doziert.
Ich selbst wurde kurz vor der Befreiung von Paris aus dem deutschen Militärgefängnis Fresnes, wo ich als politischer Häftling interniert war, in das französische Lager Drancy überführt. Mit dem letzten Judentransport, der Paris am 2. August 1944 verließ, wurde ich nach Auschwitz deportiert. Rechtsanwalt Klarsfeld und seiner Frau Beate ist es gelungen, die Liste aller Tansporte, die das Lager Drancy verlassen haben, zusammenzustellen. Aufgrund der Tätowierungslisten, die man vorfand, konnten sie auch feststellen, wieviel Menschen direkt ins Gas geschickt wurden und wieviele zum Arbeitseinsatz ins Lager kamen. Die Liste meines Transportes, der rund 1.500 Personen zählte, war vorhanden. Ich fand auch die Aufzählung der 170 Frauen, die nicht in die Gaskammern, sondern ins Lager geschickt wurden, sowie ihre Tätowierungsnummern. Doch weder mein Name noch der Name Anni Sußmann und von drei Österreicherinnen, die ebenfalls aus dem Militärgefängnis überwiesen worden waren, standen auf der Liste. Die letzte Tätowierungsnummer auf dem Register war A 16804. Ich aber trage die Nummer A 16806 und Anni S. trug die Nummer A 16807. Anscheinend wurden die politischen Häftlinge gesondert registriert. Mein Name fehlt auf allen Listen.
Anni Sußmann und mir gelang die Flucht aus einem Arbeitskommando. Im November 1944 retteten wir uns in die Schweiz. Dort versuchten wir über ein jüdisches Komitee eine Hilfssendung für unsere zurückgebliebenen Kameradinnen im Arbeitslager Kratzau zu organisieren. Das Schweizer Rote Kreuz wandte sich an seinen deutschen Partner und erhielt die Antwort, daß es ein solches Lager nicht gäbe. Als dann ein energischer Mann erklärte, das Lager müsse bestehen, zwei Frauen, die die Tätowierungsnummern aus Auschwitz trügen, befänden sich in der Schweiz (wobei er Namen und Adresse angab), gab das Deutsche Rote Kreuz plötzlich nach. Tatsächlich haben unsere Leidensgefährtinnen noch im Februar 1945 einen Lastwagen mit Lebensmitteln und Wollsachen durch das DRK erhalten.
Zur selben Zeit gelang es meiner Kameradin Anni, von dem Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes in Genf - einem Fürsten aus dem Hause Habsburg - empfangen zu werden. Auschwitz war zwar schon befreit worden, aber sowohl die schweizer als die internationale Presse hatte kaum Kenntnis davon genommen.
Es ergab sich folgendes: Der Fürst: „Sie behaupten, es hätte in Auschwitz Gaskammern gegeben, in denen man lebendige Menschen vergast hat.“ Anni S.: „Ja, ich habe sie brennen sehen, und ich habe gesehen, wie man Tote und Lebendige gemeinsam auf einen Wagen warf, der in Richtung der Gaskammern fuhr. Am Abend stiegen dann die Flammen auf.“
Der Fürst: „Ja, sind Sie denn selber einmal in so einer Gaskammer gewesen und haben Sie den Mechanismus angesehen?“ Anni: „Nein, in diesem Fall würde ich wohl nicht mehr lebendig hier stehen.“
Der Fürst: „Ja, dann tut es mir leid, dann kann ich Ihre Aussage nicht als gültig annehmen. Wir müßen abwarten, bis konkrete Beweise vorliegen.“
Hier haben Herr Piper und seine Freunde ihren Bundesgenossen gefunden. Was nutzen uns die Listen und Namen von mehreren Millionen Juden, die nach Treblinka und Auschwitz in vergitterten Viehwagen transportiert wurden? Sie sind nicht ordnungsgemäß registriert und numeriert worden, also hat es sie nicht gegeben!
Dr. Lilli Segal, Berlin 1080
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