Architekten träumen von der Mittelschicht

■ Die Wohnungspolitik der modernen französischen Vorstadtplaner geht an den Immigranten vorbei

EUROFACETTEN

Schon immer hatten laut Volkes Stimme die ausländischen Arbeiter Schuld an den schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhnen, und seit dem Ende des Wirtschaftswachstums sind sie darüber hinaus für die Arbeitslosigkeit unter den Franzosen verantwortlich, denen sie die Arbeitsplätze wegnehmen. Doch lange Zeit saßen die Immigranten in ihren Slums außerhalb der Stadt und fielen nicht weiter auf - bis für die Ansiedlung großer Bürokomplexe und öffentlicher Bauten am Stadtrand ab Mitte der sechziger Jahre diese Vorstadtslums plattgewalzt werden mußten. Die Immigranten und ihre Familien wurden in die HLMs, in soziale Neubausiedlungen, umgesetzt.

Und sie haben sich keineswegs geschämt, sich dort breitzumachen, nicht wahr? Sie haben ihre unzivilisierten Bräuche, ihren Krach und ihren Schmutz dorthin mitgenommen. Sie schneiden den Hühnern in der Badewanne den Hals durch und lassen die Schafe auf dem Rasen ausbluten. Ihre Kids klauen Motorräder und Autos, brechen in Wohnungen ein, feiern Orgien und vergewaltigen Frauen. Die französischen Familien ziehen entnervt um und stecken ihre letzten Hoffnungen auf einen sozialen Aufstieg in den Kauf einer Privatwohnung.

Manche können jedoch nicht umziehen. In sich selbst zurückgezogen, verfallen sie einem durch amerikanische Western geschürten Sicherheitswahn, und im Schutz des Slogans „Frankreich den Franzosen“ schwingen sie sich zu selbsternannten Richtern der Stadt auf: Sie bewaffnen sich mit Jagdgewehren - in jedem Supermarkt frei erhältlich - und schießen. So beginnt das Zeitalter der Sicherheitsverbrechen. Dutzende junger Immigranten werden jedes Jahr im Namen der „Notwehr“ umgebracht.

Die Politiker - durch die Wahlerfolge der Front National von Jean-Marie Le Pen in den Vorstädten beunruhigt beschließen, etwas zu tun. Türme und Wohnblöcke werden gesprengt, um durch Grünflächen Luft zu schaffen, die Metro wird angenähert, junge Haushalte erscheinen zögernd auf der Bildfläche. Zu diesem Prozeß gehört jedoch auch, daß die großen Wohnungen in kleinere aufgeteilt werden und die Preise steigen. Was soll aus den kinderreichen Familien und den Zahlungsunfähigen werden, die das nicht mehr bezahlen können? Betretenes Schweigen. Während sich die Mittelklasse ansiedelt, sehen sich die Immigranten gezwungen, das Weite zu suchen. Die Architekten konzentrieren sich auf ihren Bebauungsplan und kümmern sich offensichtlich wenig um die sozialen, kulturellen und psychischen Brüche, die durch eine solche Politik entstehen.

Die zynische Arroganz der Profis verbirgt nur schlecht, daß sich Frankreich seiner Armen schämt - seien diese nun Immigranten oder Landsleute. Es weist sie aus. Wenn möglich, bei Sonnenaufgang an einem Sommertag und so weit weg wie möglich. Im Gegensatz zu anderen Metropolen, wo die überall sichtbaren Obdachlosen mit dem Reichtum der Auslagen in den Geschäften kontrastieren, werden in Frankreich die Schlechtwohnenden ein weiteres Mal unsichtbar, außer sie besetzen ein Haus oder schlagen, wie zur Zeit in Paris, auf dem Trottoir ihr Zelt auf. In diesem Fall führen die Verhandlungen bestenfalls zur Zuweisung einer neuen Wohnung

-außerhalb der Hauptstadt. Resultat dieser Politik ist, daß die sozialen und Rassenkonflikte nur örtlich verschoben werden. Sobald sich die Umgesiedelten in den neuen Wohnungen eingerichtet haben, entstehen schon wieder Konflikte. Der schlechte Ruf ist ihnen bereits vorausgeeilt.

Die Integration von Randgruppen durch eine neue Wohnungspolitik kann nicht funktionieren, wenn sich die Betroffenen in einen von anderen bestimmten, ihnen fremden Rahmen einpassen müssen. Darüber hinaus müssen die Soziologen endlich einsehen, daß sie noch so schön über die soziale Mischung reden und mit dem rassistischen Begriff von der Toleranzschwelle flirten können - eine dauerhafte Verbesserung der Wohn- und (Zusammen-)Lebensbedingungen kann nur durch eine radikale Veränderung in der Einstellung aller Beteiligten geschehen.

Dazu gehört auch, daß die Immigranten ihre eigene Rolle in Frage stellen müssen. Häufig haben sie sich zu stark auf Verteidigungskämpfe in Wohnungsfragen beschränkt, auf Aktionen gegen die Diskriminierung bei der Wohnungsverteilung, auf Abgaben- und Mietstreiks etc. Obwohl die Kämpfe im Auge des Zyklons stattfanden, sind sie paradoxerweise an der neuen Städtebaupolitik vorbeigegangen. Noch immer ist den Immigranten die Nutzung des Geländes und die langfristige Stadtplanung scheißegal. Sie versuchen zuallererst, in einer feindlichen Umgebung ein kleines Heim zu schaffen.

Dennoch beginnen sich die Dinge zu ändern: Ein Teil der aus der Immigration hervorgegangenen Bewegung hängt mittlerweile der Idee einer „Neuen Mitbürgerschaft“ an, die sich in neuen Aktionsfeldern wie den Wohnungsbehörden, Verwaltungsbehörden der HLM etc. betätigen will. Neue Bezüge stellen sich zwischen Bewohnern, Immigranten, Architekten und Architekturstudenten her. Die „neuen Generationen“ beginnen endlich, ihrerseits an eine soziale und städtische Neubestimmung ihres eigenen Raums zu denken.

Mogniss H. Abdallah

Der Autor arbeitet für die von Ausländern gegründete Pariser Medienagentur 'agence IM'mdia‘