: Ein Freibeuter im Papstpalast
■ „Scapins Streiche“ von Moliere: Jean-Pierre Vincent inszeniert den Höhepunkt des diesjährigen Theaterfestivals in Avignon
Scapin könnte eine typische Commedia-dell'arte-Figur sein. Ein schelmischer Diener, der allen Streiche spielt und dafür ab und zu Prügel fängt. Seine Lust, Schicksal zu spielen, hat ihm bereits Gefängnis und Galeere eingebracht. Jetzt ist er wieder da und treibt über den Dächern von Neapel sein Unwesen.
Zwei reiche Herren, Argante und Geronte, wollen ihren Söhnchen ungeliebte Frauen aufzwingen und sind zudem noch geizig. Genau das Richtige also für Scapins Ränke-Regie die Söhne sollen die geliebten Mädchen bekommen und die Väter um einen Teil ihres Vermögens erleichtert werden. Wie gesagt, das könnte in guter Commedia-dell'arte-Manier über die Bühne gehen. Aber dann kommt Daniel Auteuil auf die Bühne und spielt den Scapin als Freibeuter, als einen mephistophelischen Inszenator, dem nichts heilig ist und der sein Spiel mit einer wahren Kanonade von ein- und zweideutigen Gesten kommentiert. Ein Groucho Marx und Mittelpunkt des diesjährigen Theaterfestivals, vom Publikum geliebt, von der Presse gefeiert - zu Recht. Denn allerhöchste Theaterkunst hat er zu bieten, nachdem er durch zwei Filme von Claude Berri (Jean de la Florette und Manon des sources) in Frankreich zum Volksstar wurde.
Der Höhepunkt seines blitzgescheiten Spiels: Geronte, einem der Väter, macht er weis, dieser werde von einem Trupp Soldaten verfolgt. Geronte versteckt sich in einem Sack, und Scapin umtanzt wie Rumpelstilzchen den zitternden Sack, spielt in allen Dialekten Frankreichs die verschiedenen Soldaten und rächt sich exemplarisch für alle geknechteten Diener, indem er den Sack prügelt. Daß Scapin dabei wie ein moderner Schauspieler wirkt, der sich seiner darstellerischen Mittel durchaus bewußt ist, hat Regisseur Jean-Pierre Vincent durch Kontrastierung erreicht hauptsächlich durch Vater Geronte. Der ist eine Kugel, die auf die Bühne wackelt, eine Kugel mit Commedia-dell'arte -Maske. Aber auch in diesem Fall ist die Figur nicht nur ein Zitat, Jean-Pierre Vincent hat die Komödientype weiterentwickelt zur Karikatur. Mario Gonzales stößt hinter seiner Maske spitze Schreie wie eine Möwe aus, wenn es ihm an den Geldbeutel geht. Das eigentlich Frappierende aber ist, daß er Scapin zuweilen nur bis zum Nabel reicht und ihn dann beim Schlußapplaus überragt.
In diesem modernen Spiel mit alten Theatermitteln wirken lediglich die beiden Söhne etwas blaß. Sie wurden von Moliere stiefmütterlich behandelt und fallen in Avignon vornehmlich durch farbenprächtige Kostüme auf, während die beiden geliebten Mädchen trotz seltener Auftritte von sich aus Farbe gewinnen. Beide entpuppen sich zum Schluß als dereinst entführte Töchter der beiden alten Herren, so daß aus der verarmten Hyacinthe und der Zigeunerin Zerbinette wohlhabende junge Damen werden. Einer Hochzeit über Kreuz steht nichts mehr im Wege. Scapin aber - er ist und bleibt arm. Sein einziges Vermögen ist die Schauspielkunst. Am Ende spielt er den eigenen Tod, und ein Junge namens Karl, die Stütze Scapins und sein Schüler, will die Leiche mit ihrem Mantel bedecken. Aber er ist ein guter Schüler und überlegt es sich anders, will sich mit Scapins Mantel davonmachen. Der wäre nicht ein Meister seines Faches, wenn er nicht auch diese Situation nur dazu genutzt hätte, seinen Schüler hinters Licht zu führen.
Spötter sagen, jedes Jahr im Juli falle ganz Paris in Avignon ein, um dort Gast des größten Theaterfestivals der Welt zu sein. Hinterher liege die Stadt wieder einsam und verlassen in der brütenden Hitze Südfrankreichs, während der Mistral ungehindert in den Hof des Papstpalastes - der Hauptspielstätte - einfallen könne. Die großen Pariser Bühnen stimmen in Avignon auf die nächste Saison ein. Jerome Savary hat mit seinem Sommernachtstraum einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen, während Jean-Pierre Vincents intelligente und kunstvolle Moliere-Inszenierung zum Höhepunkt des Festivals wurde. Er kann das gebrauchen, denn er tritt diese Saison ein schweres Erbe an und wird Nachfolger Patrice Chereaus am „Theatre des Amandiers“, weil der zur Zeit nur noch Filme machen will. Avignon war ein Test für ihn, und er setzte sich selbst einen Maßstab.
Jürgen Berger
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