: Gesamtdeutsche Leichname
■ Zu den Hinweisen über einen Akkord zwischen der Bundesregierung und der Stasi
KOMMENTARE
Mit jeder Enthüllung über die Stasi kommt einem mehr und mehr ein russisches Märchen in den Sinn: Ein meuchelgemordeter Vater, glaube ich, war es, der gegen die Last von Erde rebellierte, die die ruchlose Tat verborgen halten sollte. Mit jeder Generation wuchs der unruhige Leichnam, ließ erst das Dorf, dann die Stadt, dann den Rayon erzittern. Am Schluß brach der ungeheure Leichnam ans Tageslicht und brachte den Kontinent zum Einsturz. Eine interessante Warnung vor politischer Verdrängung. Bei der Stasi erzittert jetzt „nur“ Gesamtdeutschland. Es vermehren sich die Hinweise, daß die RAF-Aussteiger mit Wissen, Zustimmung oder gar auf Wunsch der verschiedenen Bundesregierungen sich im realsozialistischen Alltag realsozialisieren durften. So verbissen wie die deutsche Vereinigung betrieben wird, sind diese Informationen prädestiniert zu gehässigen innenpolitischen Debatten. Aber tatsächlich sollten sie Anlaß sein zu einer etwas gesellschaftskritischeren Sichtweise. Es ist inzwischen genug über die Stasi bekannt, um zu wissen, daß sie alle Dimensionen eines Geheimdienstes und eines Unterdrückungsapparates sprengt. Hören wir auf, sie zu dämonisieren und immer neue Katakomben der Unheimlichkeit mit Schauder zu entdecken. Die Stasi war ein Teil der DDR -Gesellschaft und des DDR-Staates. Sie verklammerte Bereiche, die in einer demokratischen Gesellschaft durch Gewaltenteilung und durch öffentliche Kontrolle getrennt sind. Daß sich die Stasi kapitalistische Stadtguerilla-Wesen unter Kontrolle hielt, ist nun wirklich keine Sensation. In demokratischen Gesellschaften müssen sich für so eine Aufgabe die Geheimdienste Mühe geben, gesetzliche Bestimmungen zu unterlaufen. Das ist der Unterschied.
Wenn es sich nun beweisen und nicht nur vermuten ließe, daß die SPD/FDP-Regierung einen Akkord einging, was wäre dann der Vorwurf? Mit einem solchen Verhalten hätte die Bundesregierung faktisch eingestanden, daß sich das RAF -Problem nicht strafrechtlich, sondern nur politisch lösen läßt. Es war immer vernünftig und human, politische Alternativen zum „Ausstieg“ anzubieten. Nur: Mit dem Seitenausstieg über die Stasi konnte man eine weitaus sinnvollere Diskussion darüber vermeiden. Derart hätte also die Bundesregierung die DDR benutzt, um eine Auseinandersetzung für die politische Lösung zu verhindern. Mit dieser Art von Resozialisierung konnte eine Amnestiedebatte vermieden werden. Das ganze Fahndungsmuster der „Topterroristen“ blieb unberührt - zum Nutzen der Stellenplanung von Verfassungsschutz und BKA. Die Stasi hat in diesem Fall nicht den Terrorismus unterstützt, sondern nur die Bundesregierung bei dem Versuch, ein Stück an Demokratie und Öffentlichkeit zu zerstören. Dieser Gesichtspunkt wird in dem kommenden innenpolitischen Streit keine Rolle spielen. Wetten, daß?
Klaus Hartung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen