: Argentinien - „Das hier ist Äthiopien“
■ Unter der Präsidentschaft Carlos Menems versinkt Argentinien in Korruption, Skandalvoyeurismus und Gleichgültigkeit / Verarmung als massenhaftes Einzelschicksal / In den Slums herrscht Faustrecht / Die Linke hat die Sprache verloren
Aus Montevideo Gaby Weber
Im krisengebeutelten Land am Rio de la Plata besteht an Information kein Mangel: Die beiden linken Zeitungen 'Pagina 12‘ und 'SUR‘ warten täglich mit den jüngsten Schreckensmeldungen auf. Auch das angesehene bürgerliche Blatt 'Clarin‘ schreibt Tacheles: Was will die peronistische Regierung heute privatisieren? Welche Fabrik hat gestern ihre Pforten geschlossen? Der jeweilige Marktpreis der Politiker wird offen diskutiert. Ein Abgeordneter heißt nur noch „Mr. Grundig“ („teuer aber zuverlässig“). Natürlich hat auch der Bruder des Präsidenten ein Dollarkonto im Nachbarland Uruguay; halbherzig muß Eduardo Menem, dem gerade die Bekämpfung der Korruption aufgetragen wurde, dementieren, bis 'SUR‘ eine Kopie des Kontoauszugs druckt. Aus den Akten der Staatsanwaltschaft präsentierte 'Pagina 12‘ eine Liste, welche Banken wen mit welchen Beträgen ausgestattet haben. Nach Angaben der Justiz wird durch die Korruption der Fiskus jährlich um 2,2 Milliarden Dollar geprellt. War während der Diktatur die militärische Hierarchie Richtschnur für die Höhe der „Gefälligkeit“, muß heute die große Bandbreite der peronistischen und liberalen Politiker bedient werden, kein Unterstaatssekretär darf übersehen werden.
Doch die Gemüter der Argentinier berühren die Skandale kaum noch. Das Volk nimmt erst wieder am Geschehen teil, wenn der Präsident seine weinende Gattin vor laufenden TV-Kameras vor die Tür setzt. Als die liberale Politikerin Maria Julia Alsogaray die Telephongesellschaft ENTel privatisierte, beschränkte sich der Unmut auf die kleine parlamentarische Opposition. Aber als sie sich jetzt für das Sensationsblatt 'Noticias‘ im Jet-set-Skiort Las Lenas ablichten ließ, wurde im ganzen Land von nichts anderem mehr geredet: Maria Julias feuchte Lippen waren einladend geöffnet, die langen Beine dem Betrachter entgegengestreckt, und unter dem Nerz war nur Haut. Der Skandal war perfekt, als die 47jährige Politikerin dem Reporter beichtete, daß sie Präsident Menem „sehr liebe“, und einen Tag später gelangte ein Geheimdienstbericht an die Öffentlichkeit, daß Maria Julia in den letzten Wochen dreimal im Präsidentenpalast genächtigt habe. Obwohl die argentinische Regierung bestenfalls noch Stoff für Seifenopern liefert, machen Meinungsforscher immer noch eine ansehnliche Sympathie für Präsident Carlos Menem aus. Die seit über einem Jahr befürchtete „soziale Explosion“ blieb aus. Statt Widerstand wird der individuelle Ausweg gesucht. Ab acht Uhr abends stellen sich die Auswanderungswilligen vor dem spanischen und dem italienischen Konsulat an, um am nächsten Morgen Visum oder Paß zu beantragen.
Die Armut explodiert täglich, nicht als spektakuläre Hungerrevolte sondern als massenhaftes Einzelschicksal. Die Mittelschicht verbarrikadiert sich aus Angst vor der um sich greifenden Kriminalität. Zunehmend werden ertappte Diebe unter lautem Klatschen der Passanten und der Medien auf der Straße niedergestreckt. Auch in den Elendsvierteln hat die tägliche Gewalt nie gekannte Ausmaße angenommen. Im Gegensatz zu den brasilianischen Favelas sind die argentinischen Slums, die „Villas“, Niemandsland, dort herrscht Faustrecht. Keine lokalen Bandenfürsten sorgen für Ordnung. Da wird die hochschwangere Nachbarin vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigt, der vierjährige Sohn des Bekannten mißbraucht, die eigenen Leute werden beklaut.
Viele Linke, die meist aus der Mittelschicht stammen, verachten die Slumbewohner als „Lumpenproletarier“. Die Linke läßt sich ins parlamentarische System einbinden. Organisationen und Parteien, die sich an den Wahlen beteiligen, erhalten ein großzügiges Kontingent an Freiflügen, Freifahrten und Gratis-Telephongesprächen.
Immer noch steckt die Angst vor den Militärs in den Gliedern, und die 30.000 Verschwundenen fehlen auf der heutigen politischen Bühne. Aber auch das Vertrauen in die linken Politiker hält sich in Grenzen. Wer heute für die Arbeiter kämpft, so heißt es, kann morgen schon auf der anderen Seite stehen. Bündnisse halten oft nur Wochen, und Wahlversprechen sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt werden. Die Reste der peronistischen Guerilla der siebziger Jahre, der Montoneros, singen heute das Hohelied auf Militärs und Agraroligarchie.
Wenn mehr als 40.000 Leute zu einer Demonstration erscheinen, gilt das in der 14-Millionen-Stadt Buenos Aires schon als Erfolg. Und warum müssen die linken Gruppen Solidaritätsveranstaltungen für Kuba organisieren, während vor der Haustür Kinder verhungern und erfrieren? Warum sollen Telephone und Eisenbahn vor der Privatisierung geschützt werden, wo doch jeder weiß, daß sie nicht funktionieren und die Beamten korrupt sind?
„Der urwüchsige Kapitalismus hat Argentinien in ein Johannesburg und Soweto unterteilt“, schreibt die Monatszeitung 'Porteno‘. „Das hier ist Äthiopien. Aber wo sind diejenigen, die das aussprechen? Die Intellektuellen haben sich wie fast alle Argentinier in die Erkenntnis gefügt, daß nichts veränderbar sei. Man diskutiert nicht mehr. Das neoliberale Gedankengut ist zur herrschenden Meinung, die Rechte zum Inbegriff des Fortschritts geworden. Die Hausfrauen fordern die Privatisierung der Telephone, die sie hinterher nicht mehr bezahlen können. Die Oberschüler scherzen über den Wasserkopf der Bürokratie. Und die Intellektuellen? Stumm. Nichts zu sagen. Wenig Meinung.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen