: Der schräge Blick auf eine ferne Welt
■ Die RAF versucht sich an einer Analyse der politischen Lage
KOMMENTARE
Nichts ist stabil in der Welt, außer dem schrägen Blick, mit dem die Kämpfer der RAF auf sie hinunterschauen. Es klingt paradox, aber die Urheber des Anschlags auf Hans Neusel mußten sich weit entfernen von Alltag und Realität, um sich in ihrem Zentrum wähnen zu können. Wie sonst ist zu verstehen, daß sie die Frage der Zusammenlegung ihrer Gesinnungsgenossen in Spanien und der Bundesrepublik in einer halsbrecherischen Rochade in den weltpolitischen „Brennpunkt der gesamten Auseinandersetzung“ nach der Auflösung des sozialistischen Blocks zu katapultieren vermögen. Wer sich in gnadenloser Selbstüberschätzung als Avantgarde und Speerspitze einer weltweiten Bewegung - wohin auch immer - sieht, muß wohl so mit der Wirklichkeit umgehen.
Dabei ist das erkennbare Anliegen der Bombenleger so banal wie subjektiv verständlich: Sie wollen die von den Gefangenen mal hierzulande, mal in Spanien in endlosen Hungertorturen verlangte Zusammenlegung in größere Gruppen mit Gewalt durchsetzen, wo die staatlichen Sicherheitsapparate zu dieser überfälligen Konzession nicht bereit sind. Sie wollen die Freiheit ihrer Freunde. Dieses (nachvollziehbare) Nahziel gerät jedoch zwangsläufig in ein gewaltiges Mißverhältnis zu jener „besseren Welt“, die die RAF-Altvorderen vor zwanzig Jahren vor Augen hatten, als sie sich zum bewaffneten Kampf entschlossen. Ob der traurige Rest dieser Utopie, die „Einleitung einer langen Kampfphase gegen die neuentstandene großdeutsche/westeuropäische Weltmacht“ mehr ist als verbalradikales Unterfutter für die Zusammenlegungsforderung - dies zu prüfen, wäre zumindest einen Versuch wert. Denn spätestens mit der gestrigen Erklärung steht fest: Solange die Gefangenen voneinander isoliert gehalten werden, wird die militante Linke die Zweck -Mittel-Relation ihrer Politik, das heißt die Frage des bewaffneten Kampfes, nicht ernsthaft diskutieren. Der nächste Anschlag ist absehbar.
Aus der Entfernung von der Realität rutscht bei den RAF -Autoren auch historisch manches zusammen, was nicht zusammengehört. So leisten sich die Verfasser der Erklärung bei ihrem unsäglichen Versuch, die deutsche Einigung umstandslos in die aggressive Tradition des Nazi-Faschismus zu stellen, ganz nebenbei eine furchtbare Verhöhnung der Opfer Hitlers. Wer die „Millionen Toten und ausgelöschten Dörfer“ des Dritten Reichs - und damit wohl auch die Millionen Opfer des Rassenwahns - bedenkenlos in eine Reihe stellt mit jenen sozialen Opfern („entwürdigte und unterdrückte Menschen“), die der Kapitalismus bei seinem Vormarsch gen Osten zweifellos auch produzieren wird, hat vom Faschismus rein gar nichts verstanden. Die RAF ist im Begriff, die letzte Verbindung zu Ulrike Meinhof zu kappen.
Gerd Rosenkranz
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