: Mitteilungen zwischen den Bildern
■ „Die Reise der Kinder von La Guette“, Di., 31.7., ARD, 23 Uhr
Filmisch gesehen ist die Formensprache eines Dokumentarfilms über die Verfolgung von Minderheiten durch die Nazis sehr begrenzt. Oligatorisch scheint die Fahrt mit der Bahn zu sein. Der Blick aus dem Abteil auf vorbeigleitende Landschaften, Metapher für das unbekannte Ziel der Deportation - immer auch das tote Gleis vor den Drahtverhauen der KZs suggerierend. Schwenks über kahle Herbstbäume, begleitet von schwermütiger Musik mit Cello und Klavier sind ebenfalls sinnfällige Symbole im Erzählschema solcher Filme.
Das ist nicht abwertend gemeint, denn nur über diese Bilder gelingt den Dokumentarfilmern eine Stimmung, die es dem Zuschauer erlaubt, sich auf eine ihm unbekannte Sprache einzulassen. Etwas zu erzählen beginnen die Filme erst jenseits der Sprache, die schnell in O-Tönen zu konservieren ist. Im Zusammenwirken aller Dinge, der banalen Bilder und der symbolischen Zeichen, der Dokumentarteile und der Interviews, entsteht der wirkliche Zusammenhang.
Auch Andrea Morgenthal hat nach diesem Gleichklang gesucht, mit einem Motiv ist er ihr kongenial gelungen. Die Kamera schwenkt über den Strand, das Meer hat sich weit zurückgezogen, und die Boote liegen auf dem Trockenen. Zum Teil sind sie umgekippt, manche stecken mit dem Kiel im Sand und bewahren Haltung, viele wirken jedoch wie hilflos zappelnde Fische auf dem Trockenen. Gestrandete eben, wie die Kinder von La Guette, die der Verfolgung in Deutschland entgingen, weil jüdische und christliche Gemeinden und die Baronin Rothschild die Evakuierung nach Frankreich organisiert hatten.
Behutsam erzählt der Film von der Reise, die mit dem Krieg mehr und mehr zu Flucht vor Auschwitz wird. Am Anfang, fern der Heimat, ist es auch eine Reise ins eigene Ich. Das kindliche Suchen nach der Antwort, warum es gerade jüdische Kinder trifft: „Hitler hat eigentlich recht. Er will sich jetzt rächen, weil die Juden immer alles haben wollten und immer reich waren.“
Das schreibt kein Hitlerjunge, sondern ein jüdisches Kind, das sein Anderssein begreifen lernt. Ein schwerer Prozeß, dem die Erzieher von La Guette mit der Ausrufung einer „Kinderrepublik“ auf die Sprünge helfen wollten.
Ohne Rührseligkeit und mit jenem Geschick für die Mitteilungen zwischen den Bildern glückt Andrea Morgenthal mehr, als nur die Formensprache einer Geschichtslektion durchzuhecheln. Nur am Schluß baut sie nicht mehr auf die Nähe zu ihren Kindern. Plötzlich verschwinden die, die uns so vertraut geworden sind, in Zahlenkolonnen. Das muß nicht sein. Das erinnert an die anderen, und die waren viel gründlicher.
Christof Boy
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