: Die Spree - der vergessene Fluß
■ Ein paar Happen Stadtgeschichte: Wie Berlin rund um den Mühlendamm an der Spree entstand. Ohne die Spree wäre
Schwimmbewegungen in der Historie
die Stadt nix geworden, doch auch Bausenator Nagel findet, daß Berlin seinem Fluß „den Hintern zuwendet“.
VON UTE SCHEUB
Das Schiff sinkt. Langsam, aber unaufhaltsam. Die graue Kaimauer wächst über die Höhe unserer Bauchnabel, Schultern und Köpfe hinweg direkt in den Himmel. Und mit uns geht es immer tiefer hinab in den Untergrund, Urgrund. In die Ursuppe der Stadt namens Spree. Wir sitzen nämlich auf einem die- ser Sonntagnachmittagausflugsdampfer, und die Schleuse am Mühlendamm läßt uns nicht nur um einen Meter fünfzig, sondern auch um knapp siebenhundert Jahre tiefer sinken: tief in die Vergangenheit Berlins.
Hier im Noch-Ostteil der Stadt nämlich, an der Schleuse bei der heutigen „Fischerinsel“, ist für die Geschichtsschreiber der historische Kern von Berlin entstanden. Zugegeben, die Urururberliner machten es sich im eiszeitlichen Urstromtal von Spree und Havel ein wenig weiter entfernt gemütlich: Auf der Spree-Halbinsel Stralau vergaßen sie einen prähistorischen Einbaum, und im U-Bahn-Schacht des Hansaplatzes eine als Stoßwaffe zugespitzte Rentierstange. Dafür aber befand sich hier an den beiden versumpften Flußufern jene Ansammlung von wahrscheinlich recht armseligen mittelalterlichen Hüttchen, die in den Jahren 1237 und 1244 zum ersten Mal urkundlich „Cölln“ und „Berlin“ genannt wurden. Und schon damals begannen die Einwohner der Doppelstadt, die Spree zu stauen, der „molendam“ alias Mühlendamm jedenfalls taucht seit 1298 auf. Wie der Name schon sagt, wurde das Wasser angestaut, um unter landesherrlicher Gewalt des Markgrafen Mühlen zu betreiben; es bestand Mahlzwang.
Die Mühle klapperte eifrig am rauschenden Fluß, und Berlin blühte so sehr auf, daß es zeitweilig dem Städtebund der Hanse angehörte. Über Oder und Spree und auf dem Landweg wurden polnisches Getreide, Holz, Wachs, Felle und Heringe eingeführt, aus Hamburg kamen orientalische Gewürze oder Feigen und auch damals schon Stockfische.
Der Kurfürst
zieht auf die Insel
Der Wasserstand hat seinen tiefsten Punkt erreicht. Langsam, fast behäbig öffnet sich das nördliche Schleusentor und läßt quirlige kleine Wellen springen. Das Schiff nimmt wieder Fahrt auf, gleitet längs der Fischer- und Museumsinsel dahin. Auf beiden Seiten historisches Fachwerk und moderner Beton. In ihrem strengen Korsett aus Stein benimmt sich die Spree wie eine Dame von Welt. Sie zeigt sich der Stadt, die Stadt zeigt sich ihr - hier und nirgendwo mehr sonst in Berlin.
Die Stadt, also Armut und Reichtum, also Aufruhr und Repression, kam mit den Kurfürsten. Genau hier, auf der Insel zwischen der Spree und dem damaligen Köllnischen Stadt - und heutigen Kupfergraben, plazierte Friedrich II. im Jahre 1442 sein Schloß als ständige Residenz der Kurfürsten. Gleichzeitig riß er das den Berlinern verliehene Handelsprivileg, das „Niederlagsrecht“, an sich. Im Februar 1448 zogen die erzürnten Bürger kurzerhand die Stauschleuse auf und setzten - wahrscheinlich mit hämischem Grinsen - die Schloßbaustelle unter Wasser. Der Kurfürst bekam kalte Füße
-und konnte sich am Ende doch durchsetzen.
Die „Börse der
Weiber und Mägde“
Auf der Rathausbrücke stehen Touristen und winken tumb und nett dem Passagierschiffchen zu. Links und rechts wuchten sich wichtige Bauten aus dem Boden, es dräut die deutsche Geschichte. In Fahrtrichtung gleich hinter dem alten Marstallgebäude protzt der Palast der Republik an jener Stelle, wo die SED-Getreuen 1951 den Barockpalast des Preußenkönigs in die Luft sprengten. Auf der anderen Seite posiert geschniegelt und geleckt und bis zum Kitsch hochrestauriert das Nicolaiviertel - das älteste Viertel Berlins.
Nicht nur in Hamburg, auch hier - auf dem Molkenmarkt - gab es im 17. und 18. Jahrhundert einen Fischmarkt, der zugleich Informationsbörse und Urvater der heutigen Berliner Tageszeitungen war. Georg Gottfried Küster spricht von diesem Fischmarkt als „Börse der Berliner Weiber und Mägde, maßen man insgeheim von den allhier täglich häufig zusammenkommenden Frauenspersonen die ersten Nachrichten von dem, was in Berlin neues vorgeht, zu hören pflegt. Gestreitig ist daher das allhier ganz bekannte Wort entstanden: Fisch-Markt-Zeitung.“
Auch die Nachricht von der Fertigstellung des „Friedrich -Wilhelm-Kanals“ unter dem „Großen Kurfürsten“ im Jahre 1669 wird hier eine angemessene Runde gemacht haben. Nun war eine schiffähige Verbindung von der Spree zur Oder geschaffen, andere Kanäle folgten. Ohne das „wirtschaftspolitisch strategische Netz der märkischen Wasserstraßen, das als eine der wesentlichen Voraussetzungen für das Aufblühen Berlins angesehen werden darf“, wie der frühere Berliner Wasserbaudirektor Werner Natzschka schreibt, hätte die Stadt sich das Hinterland im Osten nie erschließen können. Die Folge: Unter der Regierung des „Großen Kurfürsten“ Friedrich II. verdoppelte sich die Einwohnerzahl Berlins von 81.000 auf 150.000.
Und damit wuchsen auch die hygienischen Probleme. Die Nachteimer wurden damals einfach auf der Straße ausgekippt und manchmal gar am Schloß der Kurfürsten und späteren preußischen Könige. Seine Königliche Majestät in Preußen, Friedrich I., jedenfalls sah sich genötigt, mit einer am 3. Mai 1707 erlassenen „Gassen-Ordnung“ gegen derlei antimonarchistische Sauereien vorzugehen: „Zu Ausgiessung der Nachtstühle aber, werden folgende Oerter hiedurch angewiesen: Als übern Bauhoff durch den Bogen nach der Spree, am Mühlendamm, in der Bader- und Paddengäßchen: In Cölln, in der Fischer- Roß- Grün- und Lapp-Strassen, und wo man sonst füglich ans Wasser kommen kan, wie nicht minder in denen übrigen Residentzien, insonderheit aber, sol bey Vermeidung, schwerer Bestraffung sich niemand unterstehen, dergleichen gegen das Schloß und Königlichen Garten wie auch in das Canal in der Schleuse, ins Wasser zu tragen und auszugiessen.“
Der „Schutzwall“ hat eine viel längere Tradition
Gemächlich schiebt sich das Boot an den letzten Bauten der Museumsinsel vorbei, hinter der sich Kanal und Spree wieder zu einem Strom vereinigen. Auch im Blickfeld geradeaus läßt sich ein vereinigter Strom ausmachen - der der Reisenden von Ost nach West und umgekehrt. Hier, am Bahnhof Friedrichstraße, donnern die S-Bahnen und Fernzüge über die Spree. Noch eine Brücke weiter, und wir passieren jenes berühmte Betonobjekt, das heutzutage wie eine abgenagte Brotrinde aussieht.
Doch die Mauer hier war beileibe nicht die erste Mauer. Schon König Friedrich Wilhelm I. ließ die Stadtgrenze, die am heutigen Reichstagsgebäude vorbei über die Stresemannstraße zum Halleschen und Schlesischen Tor verlief, zu einem antimeuteristischen Schutzwall verstärken. Auf der rechten Spreeseite wurden Palisaden errichtet, auf der linken wurden die Mauersteine auf drei Meter Höhe verstärkt. Hauptgrund: Die Fahnenflucht seiner oft genug mit Gewalt in den Dienst gezerrten Soldaten sollte verhindert werden.
Berlin von hinten:
Die Spree als Nutzfluß
Zwischen der Charite im Osten und dem Grüngelände hinterm Reichstag im Westen wird die Flußlandschaft wild: Ensemble in Grau-Braun-Beige. Schutthalden, Mauerteile, Sandberge, ein Wachturm mit eingeschlagenen Scheiben. Rostige Reststücke der gesprengten Kronprinzessinnenbrücke ragen aus dem Wasser. Industrielle Melancholie. Im Hintergrund lärmt der Bahnhof Lehrter Straße. Dieses Stückchen Uferland, auf dem diverse Architekten schon die Türme eines zukünftigen Regierungsviertels in den Himmel sprießen sehen, hatte Bausenator Wolfgang Nagel wahrscheinlich im Sinn, als er kürzlich beklagte, daß „die Stadt ihr Gesicht abwendet und der Spree den Hintern zudreht“. Jenseits des alten Zentrums ist der Uferbebauung tatsächlich fast überall anzumerken, daß die Stadt jenen Fluß, dem sie ihre Entwicklung verdankt, vergessen hat. Doch ist das wirklich überall ein Schaden? Diese Brachlandschaft zwischen Reichstag und der Einmündung des Spandauer Schiffahrtskanals, gehört sie nicht besser unter politischen Naturschutz gestellt?
Jener Spandauer Schiffahrtskanal ist wie der Landwehrkanal durch Kreuzberg und Schöneberg und weitere Kanäle ebenfalls ein politisches Denkmal. Nicht nur dafür, daß ohne das weitverzeigte Kanalnetz zwischen Spree und Havel die explosionsartige Stadtentwicklung Berlins in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nie möglich gewesen wäre - auf ihrem Wasser transportierten die Berliner Schifferfamilien Obst und Getreide, Ziegelsteine und Baumaterialien aus dem Umland in die einzelnen Stadtteile. Ein Denkmal ist er aber auch für gelungene Counter insurgency im europäischen Revolutionsjahr 1848: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen statt Revolution.
Die Spree, die
neuen Kanäle - und
die „Crawalle“
Die ungelernten und oftmals arbeitslosen Berliner Erdarbeiter, auch „Rehberger“ genannt, waren ob ihres Elans im Straßenkampf bei den preußischen Machthabern durchaus gefürchtet. Als im Februar 1848 die Nachricht vom Sieg der Französischen Revolution eintraf, sannen sie danach, das Konfliktpotential so schnell wie möglich von der Straße zu bekommen. Alte Pläne zum Bau des Spandauer Schiffahrtskanals, des Landwehrkanals und des Luisenstädtischen Kanals wurden reaktiviert, und Tausende von Arbeitern kamen in Lohn und Brot, bis alle drei Kanäle zwischen 1850 und 1859 eingeweiht wurden.
Doch das heißt nicht, daß diese straßenkämpferische Sektion der Arbeiterklasse Ruhe gegeben hätte. Im April und Mai 1848 kam es zu den historischen Vorläufern der Kreuzberger Krawalle - berichten auch Zeitgenossen von „Crawall“. Jedesmal zogen Erdarbeiter, die nach Arbeitszeit bezahlt wurden, durch die Straßen, um den Akkordarbeitern - die ihnen die Löhne verdarben - eins draufzugeben. Und im Oktober eskalierte die Situation mit einem Maschinensturm: Der Magistrat hatte eine mit Dampf betriebene neue Pumpe zum Ausschöpfen des Grundwassers am Landwehrkanal aufstellen lassen, die von den Kanalarbeitern als unliebsame Konkurrenz angesehen wurde. Ein Gericht stellte den Tathergang später folgendermaßen dar: „Jetzt warf sich der Haufe auf die Maschine, die auf Holzkeile gesetzt war, um ins Wasser gelassen zu werden, zerschlug die Keile und beschädigte die Maschine so stark, daß ein Schade von 1800 Thaler in wenigen Minuten zu Stande gebracht war. Jetzt rückten 2 Bataillone Bürgerwehr und 140 Mann Constabler an ...“ Zur Ahndung der frevlerischen Tat und zukünftigen Abschreckung erließ der preußische Innenminister, daß nicht nur die Maschinenstürmer selbst, sondern auch viele andere Erdarbeiter von Woche zu Woche entlassen werden sollten. Diese Ungerechtigkeit wollten die Kanalarbeiter nicht auf sich sitzen lassen. Sie zogen zum Exerzierhaus, und aus ersten Handgreiflichkeiten zwischen Arbeitern und preußischer Bürgerwehr entwickelten sich heftige Barrikadenkämpfe bis in den späten Abend. In der Köpenicker Straße wurde eine Polizeiwache, andernorts wurden Waffenläden gestürmt. Zwölf Arbeiter und ein Mann von der Bürgerwehr starben. Im folgenden Frühjahr waren nicht nur die Rädelsführer zu mehrjährigen Strafarbeiten verurteilt, sondern auch die erstrittenen Verbesserungen im Arbeitsalltag alle wieder annulliert.
Auch den Luisenstädtischen Kanal, den die Erdarbeiter quer durch die Luisenstadt - alias Kreuzberg SO36 - buddelten, gibt es nicht mehr. Seine kurze Existenz begann nicht nur mit einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, sondern endete auch so: 1926 wurde er wieder zugeschüttet.
Industriechaos, Mietskasernen,
Streiks - und immer
wieder der „Pöbel“
In ausladenden Bögen windet sich die Spree und mit ihr unser Schiff durch Moabit. Dieser Bezirk ist das Berlin des 19. Jahrhunderts: ist Arbeiterviertel, Mietskaserne, industrieller Gürtel abseits des alten Zentrums. Hier, längs der Spree, siedelten sich die ersten Großbetriebe an: Borsig und Siemens, Loewe AG und AEG, die Maschinenbauanstalt der Preußischen Seehandlung und die Berlin-Anhaltische Maschinenbau AG. Das wenigste steht heute noch, statt dessen plustern sich hier Lebensmittelkonzerne wie Bolle auf oder das Fraunhofer-Institut mit seinem futuristischen Rundbau für Robotertechnik. Dazwischen wieder industrielles Chaos und Tempotaschentücher für den Hintern der Stadt, Schutt und Sandhaufen, Kähne und Kräne. Die Spree ist vergessen, Moabit ist gegessen.
Dabei gibt es auch hier von Meutereien und Krawallen zu berichten. Im September 1910 beispielsweise streikten die Transportarbeiter der Kohlenhandlung Kupfer & Co in der Sickingenstraße für eine gemäßigte Lohnerhöhung. Auf Geheiß des Ruhrbarons Stinnes, Besitzer von Kupfer & Co, beauftragte die Geschäftsleitung eine professionelle Streikbrecherfirma, deren Männer dann im Schutz von Polizeieskorten zur Arbeit zogen. Die Polizisten bedrohten streikende Arbeiter, schlugen auf Frauen ein, zogen den blanken Säbel gegen alle, die in größeren Gruppen beieinanderstanden. Kein Wunder, daß „der Pöbel“ irgendwann zurückschlug: Eines Nachts überfiel und verprügelte er einige Schupos, knickte Straßenlaternen um, warf Scheiben ein und demolierte gar zwei sozialdemokratische Kneipen. Am nächsten Tag wurden die Polizeitruppen auf mehr als 1.000 Mann verstärkt, die dann fleißig die Straßen von diskutierender Bevölkerung räumten, in Wohnungen eindrangen und Fliehenden hinterherschossen. Als Antwort hagelte es Steine und Blumentöpfe von den Balkonen. Mit weit über hundert Verletzten und einem Toten ging diese Tage als „Moabiter Polizei-Unruhen“ in die Geschichte ein.
... in die Havel,
Elbe, Nordsee
Auf ihrem letzten Stück Weg durch die Jahresringe rund um das historische Zentrum Berlin wird die Spree immer profaner und neuzeitlicher. Den Uferrand von Charlottenburg säumen nun das Kraftwerk Reuter und das Müllverbrennungswerk, das Klärwerk Ruhleben und die Herlitz AG, der TÜV und der Schatten von „Ikea“. Hier ist nicht der Hintern der Stadt, sondern der Arsch der Welt. Und dann, plötzlich, ist alles vorbei. Die Spree mündet in die Havel, die Havel in die Elbe, die Elbe in die Nordsee, die Nordsee ins Nichts.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen