Die Ernte ist gut, die Ernter sind schwach

■ 20 bis 30 Prozent der sowjetischen Ernte drohen mangels Arbeitskräften und einsetzbarer Transportmittel verlorenzugehen

Moskau (afp/taz) - Der Mangel wie der Überfluß, sagte man früher, bringe der kapitalistischen Ökonomie unlösbare Probleme. Jetzt sieht sich die nochsozialistische Sowjetunion mit dem Mangel im Überfluß konfrontiert. Die Getreide-, Obst- und Gemüseernte verspricht, den Rekord des Jahres 1979 zu brechen, aber sie kann nicht eingefahren werden. Wurde früher, bis hin zu Tschernenko, ein „freiwilliges“ Heer zusätzlicher Arbeitskräfte für den Ernteeinsatz aufgeboten - oft mit fatalen Folgen für die Produktionszweige, wo dann die Arbeiter fehlten - so ist heute die Zwangsrekrutierung gesellschaftlich kaum noch durchsetzbar. Über die Region Jaroslaw in der Nähe Moskaus ist bereits für die Zeit vom 1. bis 15. August der Ausnahmezustand verhängt worden, da sich im Unterschied zu früheren Jahren die örtlichen Firmen geweigert hatten, Arbeitskräfte für die Ernte abzustellen. Auf der Sitzung des sowjetischen Ministerrats vom Donnerstag schreckte Ministerpräsident Ryschkow allerdings davor zurück, im Landesmaßstab nach diesem Vorbild zu verfahren. Bislang beschränkte er sich auf Appelle: „Die Menschen müssen sich an der Ernte beteiligen, unabhängig von ihrem Wohnort und ihrer Arbeitsstelle“. Wer aber soll der Adressat solcher Aufforderungen zur Selbstlosigkeit sein, angesichts einer Wirtschaftsreform, die durchweg auf die Monetarisierung von Leistungen setzt? Bleibt der Einsatz von Schülern und Studenten, der allerdings kaum umsonst zu haben sein wird.

Schwierigkeiten gibt es auch mit den Mähdreschern, die zu 1/7 außer Betrieb sind. Ein weiteres Fünftel kann nicht eingesetzt werden, weil es an Fahrern fehlt. Zum Hauptproblem scheint sich allerdings der Mangel an Transportfahrzeugen zu entwickeln. Wladimir Ginko, der stellvertretende Transportminister, schätzt, daß 20.000 Transportfahrzeuge fehlen. Dabei sind seitens des Verteidigungsministeriums und des KGB bereits 35.000 Lastwagen vor allem für die Russische Föderation und Kasachstan bereitgestellt worden. Diese temporäre Konversionsmaßnahme reicht allerdings nicht aus. Ryschkow will daher erneut zu dem ebenso probaten wie kostspieligen Mittel greifen, 10 bis 15 Prozent der Fahrzeuge aus dem Fuhrpark ausgewählter Großbetriebe abzuziehen.

Wladilen Nikitin, Vorsitzender der Regierungskomission für Lebensmittel, berechnete den täglichen Getreideverlust, der durch Verzögerungen bei der Einbringung der Ernte entsteht, auf fast 2 Millionen Tonnen. Rechnet man diese Zahl hoch, so besteht die Gefahr, daß 20 bis 25 Prozent der Ernte nicht eingebracht werden können und die Sowjetunion tatsächlich gezwungen sein könnte, ihre Ankündigung wahrzumachen und Getreide auf Kreditbasis aus dem Westen zu importieren.

C.S.