Falsche Tränen - echte Fragen

■ Ein Workshop-Tag in der Sommerakademie

Im Foyer hängen sie alle vergrößert fotokopiert aus, die Absichtserklärungen und Vorabinterviews von vor zwei Wochen, als die „Sommerakadmie“ begann. Schöne Sache eigentlich, denke ich noch mal bei mir auf dem Weg in den dämmrigen Clubraum der Akademie der Künste. Tag für Tag werden dort alle möglichen film- und medienbezogenen Workshops angeboten, und ebenda sollen die Diskussionen und Gespräche stattfinden, für die auf Festivals keine Zeit und im alltäglichen Leben der Film- und Videoschaffenden keine Gelegenheit ist. Um 10 Uhr morgens regte er sich erst leise, der Verdacht, an einer irgendwie anachronistischen Veranstaltung teilzunehmen. Am Ende des Workshoptages über „Videokultur“ war daraus dann eine Grundsatzfrage geworden.

Wolfgang Preischkat, Viedeokritiker und Publizist aus Amsterdam, hielt den ersten Vortrag, gerahmt und unterbrochen von Videobeispielen. Prischkat definiert die revolutionäre Potenz dieses Mediums zunächst als die Fähigkeit, die lang ersehnte Verständigung aller anderen Medien untereinander zu ermöglichen. Zumindest theoretisch lassen sich durch die elektronische Bildaufzeichnung sämtliche je gemalten, fotografierten oder gefilmten Bilder mit jeder Musik und jedem Text relativ schnell (re)kombinieren, samplen, kopieren, manipulieren etc. Die Abgrenzung zum (avantgardistischen) Film manifestiert sich, so Preikschat, weniger in irgendwelchen Computertricks, die filmisch nicht herstellbar sind, als in einer strukturell anderen Verfügbarkeit von Bildmaterial. Als Beispiel wurde ein Ausschnitt aus einer belgischen Fernsehsendung gezeigt: Geschichtsschreibung im Videozeitalter.

Fiktion (z.B. Spielfilmausschnitte) und Dokument (z.B. Kupferstiche) begegnen sich auf der visuellen Ebene als gleichberechigte Quellen und stellen so, zumindest indirekt und in Konkurrenz zum herkömmlichen Schulunterricht, die Autorität des Textes in Frage. Auf dieses Beispiel reagierten die Zuhörer gereizt. Es wurden Fragen gestellt, z.B. nach den Kosten eines solchen Fernseh -Geschichtsunterrichts und in welchem Zusammenhang Preikschats These mit der Tatsache stehe, daß „Ein Volk sprengt seine Mauern“ auf VHS schon für 39,50DM zu haben ist? Diese Fragen waren vielleicht noch nicht ganz falsch und konnten (mit etwas gutem Willen) als Assoziationsfreudigkeit verstanden werden. Sie führten aber sehr, sehr weit weg vom Vortrag, und deswegen brach Preischkat nach zehn Minuten die erste, mißlungene Diskussion ziemlich rigoros ab. Im zweiten Teil des Referats ging es um die kulturelle Bedeutung solcher Viedobilder, die Unsichtbares sichtbar machen (z.B. Infrarotaufnahmen) und wie diese Phänomene zur universellen Erweiterung unserer Wahrnehmung beitragen. Preischkats Gedanken zeichneten sich nicht durch völlig neue Überlegungen zum Verhältnis von Video und Kultur aus, boten aber doch, zumindest den Thesen nach, einen Ausgangspunkt für Diskussionen, die die Zeitungsartikel draußen im Foyer versprochen hatten. Erst dachte ich, es sei der etwas leidenschaftslose Vorlesestil gewesen, der die Gespräche verhindert hatte. Dann aber, vor der Mittagspause, zeigte Preischkat „zur Belohnung und nur so zum Konsumieren“ Princes „Sign of the Times„-Video. Er hatte sich also damit abgefunden, die Rolle des Lehrers/Dozenten zu spielen, der nur mit pädagogischem Geschick die Schüler bei der Stange hält.

Tatsächlich sind die meisten Teilnehmer der Sommerakademie Studenten, die zumindest in dieser Veranstaltung alle zeitgenössisch-gräßlichen Universitätsgepflogenheiten mitgebracht hatten. Am Nachmittag wurde es fast unerträglich: Valie Export, österreichische Filmemacherin, Bildende und Video-Künstlerin, war eingeladen, ihre Arbeiten vorzustellen. Zuerst zeigte sie ihr Video „Syntagma“ und wollte an diesem Beispiel verdeutlichen, was das Subversive des Mediums ausmacht. Ihrer Meinung nach fühlt sich die bürgerliche Gesellschaft von Video auf eine andere Weise bedroht als vom Film, weil Video alle künstlich am Leben erhaltenen Reste von „Aura“ zerstört, die bürgerliche Kunstwerke notwendigerweise umgeben. An dieser Stelle wurde Valie Export dann mehr oder weniger daran gehindert, ihre Thesen weiter auszuführen. Es wiederholte sich das Spiel vom Vormittag, nur aggressiver: Einwürfe und beliebige Anekdoten, die fast sämtlich der eitlen Selbstdarstellung der Workshopteilnehmer dienten und diesmal ganz offensichtlich, wenn auch unbewußt, darauf abzielten, ein Gespräch zu verhindern. Godard habe doch schließlich auch...

Irgendwann konnte Vaile Export nur noch schweigend mit dem Kopf schütteln. Und weil sie, im Unterschied zu ihrem Vorgänger, kein Manuskript (Autorität des Textes!) zur Hand hatte, aus dem sie weiter hätte vorlesen können, schob sie eine neue Videokassette ein. Einen Dokumentarfilm über die Geschichte der Aktionskunst, ein lehrreicher, informativer Fernsehfilm, produziert vom ORF. Mit dem Thema des Workshops („Videokultur“) hatte das Feature nur noch sehr indirekt etwas zu tun, aber alle saßen still und lauschten den sonoren Kommentatorenstimmen und den wohlproportionierten Interviewhäppchen, eine ganze Stunde lang. Danach wollte keiner mehr reden, also noch eine kleine Pause, noch ein Video. Valie Export setzte erneut an, etwas über ihre Arbeit zu erzählen (vielleicht nur noch aus schlechtem Gewissen, wegen ihres Honorars und weil sie wußte, daß die Anwesenden 20,-DM pro Tag und Kopf bezahlt hatten?). Es war, als bemühe sich jemand so redlich wie vergeblich darum , vom Pult aus den Schülern beizubringen, wie man subversiv werden kann. Irgendwann kam sie auf TV-Tränen zu sprechen: sobald es um Echtheit von Gefühlen ginge, würde sie persönlich nur direkt vom Gehirn auf den Bildschirm übertragenen Sinuskurven vertrauen, denn das Staatsfernsehen müsse ja lügen, und deswegen könne man bei TV-Tränen niemals die vorangegangene Manipulation im Bild rekonstruieren.

Und da plötzlich begann ein Gespräch, es wurden ernst gemeinte (!) Fragen gestellt: Ob Valie Export es denn falsch fände, wenn eine Mutter aus identifikatorischem Mitgefühl bei Dallas weinen würde, weil sie die Szenen an die Entführung ihres eigenen Kindes erinnern würde? Eine andere Frau bemerkte, daß ihr so ein echt weinender Mensch als Gegenüber doch immer noch lieber sei als so eine abstrakte Sinuskurve. Und so hatte sich kurz vor Schluß diese Stimmung breit gemacht, aus der heraus man den Entschluß faßt, der alleinstehenden Mutter aus der Lindenstraße ganz spontan ein paar Mark aufs Konto zu überweisen...

Eigentlich war alles da, was es für ein Werkstattgespräch braucht - viele Videobänder; Vortragende mit Thesen; ungefähr 25 angemeldete Teilnehmer; auch die Recorder liefen einwandfrei; und man durfte rauchen. Nur die immateriell -kulturellen Voraussetzungen schienen abgestorben. Und auf dem Heimweg bohrte in mir die Frage, ob die ganze „Sommerakademie“ ein Folklore-Festival geworden ist, dem es an passendem Publikum mangelt.

Dorothee Wenner