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Wie Hölderlin zu deuten sei

 ■ Eine „Rekonstruktion“ des Spätwerks

Von Rudolf Speth

Wie Hölderlin zu deuten sei, darüber streiten sich immer noch Gelehrte und Liebhaber. Besonders Hölderlins Spätwerk gibt Anlaß zu Debatten. Lange Zeit galt es als erwiesen, daß der Dichter 1802 umnachtet aus Bordeaux zurückkehrte. Erst Pierre Bertaux hat 1968 dieser These heftig widersprochen und für Aufregung in der Eintracht der Hölderlin-Forschung gesorgt. Die Geschichte der Hölderlin-Edition ist eine der politischen und geistesgeschichtlichen Konjunkturen.

Gegen Friedrich Beißners Edition von Hölderlins Texten in der „Großen Stuttgarter Ausgabe“, die 1942 begonnen und 1985 fertiggestellt wurde, gab es schon bald Einwände. Sie richteten sich gegen den Umgang mit dem schwierigsten Text seiner Hinterlassenschaft - dem Homburger Folioheft. Dietrich E. Sattler zog daraus die Konsequenz und begann mit seiner Frankfurter Ausgabe (HFA) ab 1975, ein neues Hölderlin-Bild zu zeichnen. Das Ziel der Frankfurter Ausgabe ist noch nicht erreicht, die Bände 7/8 mit der Spätdichtung und den hymnischen Entwürfen des Folioheftes noch nicht erschienen. Lediglich als farbige Faksimile-Drucke mit typographischer Umschrift als Lesehilfe liegen die Homburger Manuskripte, die Hölderlin während seines zweiten Aufenthalts in Homburg 1804 bis 1806 verfaßte, in einem Supplement-Band der HFA seit 1986 vor.

Schon frühzeitig hatten sich D.E. Sattler und KD Wolff, Verlagsleiter des Roten Stern, um eine Photographiegenehmigung des Folioheftes bei der Stadt Homburg (der Eigentümerin der Handschrift) bemüht. Doch als es Ernst wurde, wollte die Stadt von dieser Zusage nichts mehr wissen. D.E. Sattler galt in der Zunft lange Zeit als Werbegraphiker und Autodidakt ohne akademische Weihen, mithin: nicht viel. Grund des Zögerns der Stadt war ein Konkurrenzunternehmen, das von der Hölderlin-Gesellschaft protegiert wurde und ebenfalls die Faksimilierung des Spätwerks ins Auge faßte. Wissenschaftlicher Leiter des Projekts war Dietrich Uffhausen, als Schüler von Fridrich Beißner und Wolfgang Binder bestens reputiert. Sattler und Wolff mußten Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um doch noch an die Faksimiles der Handschriften zu kommen.

Jetzt gab Uffhausen einen schwergewichtigen und großformatigen Folianten heraus, der das Homburger Folioheft zum Gegenstand hat, ist also Sattler zuvorgekommen. Uffhausen verleiht seiner Ausgabe den Rang einer Neuentdeckung der Spätdichtung Hölderlins und will damit eine „Umwertung des vertrauten Hölderlin-Bildes“ bewirken. Seine Rekonstruktion und Neubewertung umfaßt die ersten Pindarischen Hymnen, die Nachtgesänge, die hymnischen Entwürfe des Homburger Folioheftes sowie die Vaterländischen Gesänge.

Wie aber kommt Uffhausen zu der behaupteten Neubewertung des Textmaterials? Schon aus Sattlers Faksimile-Ausgabe ist dem aufmerksamen Betrachter der Handschrift erkennbar, daß das kein Heft voller Trümmer, Bruchstücke und Entwürfe ist, wie es Friedrich Beißner in der Stuttgarter Ausgabe nahegelegt hatte. Vielmehr machte schon Sattlers Darstellung der Anordnung der Blätter einsichtig, daß dort ein kompositorischer Wille am Werk war, denn Hölderlin hat das Heft nicht linear vollgeschrieben, sondern jeder Hymne bereits im Entwurfsstadium einen besonderen Platz zukommen lassen. Auch sind die Züge der Handschrift klar, konturiert und frei und legen keineswegs den Schluß nahe, ein Geisteskranker habe dort Eingebungen notiert.

Bei der Bewertung des Homburger Folioheftes kommt es vor allem auf den Bezug der Teile zueinander an. Hölderlin hat die Heftung entfernt und die Blätter mehrfach umgeschichtet, so daß jetzt eine lose Doppelblattsammlung mit leeren Seiten in der Mitte, mit Brüchen und Überschreibungen vorliegt.

Uffhausen bezweifelt, wie vor ihm schon andere, daß bei Hölderlin schon im Sommer 1802, nach der Rückkehr aus Bordeaux, Symptome einer geistigen Verwirrung zu beobachten gewesen wären. Vielmehr sei der Bruch erst 1806 zu datieren, als Hölderlin unter Zwang von Homburg in die Autenrithsche Anstalt gebracht und dort folterähnlichen Torturen unterworfen wurde. Uffhausen bemüht sich, das Spätwerk des Dichters von den Schatten der Krankheit freizuhalten, als sei damit schon eine positive Vorentscheidung über Größe und Bedeutung der späten Dichtung getroffen. Der Makel des Geisteskranken könnte der Ernsthaftigkeit der poetischen Absicht schaden. Sein Ziel war es, die ästhetische und ideelle Ganzheit des Textes als Werk durch Entzifferung und Textdeutung herzustellen. Was offensichtlich unfertig, aber nicht wirr ist, soll durch Zusammenführung von Textsegmenten ganz und rund werden. Zwischen einem kompositorischen Willen, der aus dem Folioheft selbst spricht, und Uffhausens Vollendungsgedanken, den er bei der Restitution aller Hymnen praktiziert, ist aber ein weiter Unterschied.

So bringt Uffhausen Hölderlins erste Hymne „Wie wenn am Feiertage...“, von der bislang angenommen wurde, daß er sie nicht vollenden konnte (wie auch das „Stuttgarter Foliobuch“ zeigt), mit einem unter dem Titel Im Wald bekannten Bruchstück zusammen. Beißner hat es als Nr.37 im 2. Band abgedruckt, und Uffhausen meint nun, darin die Fortsetzung der Hymne zu erkennen, die mit einem zweifachen „Wehe mir,“ abbricht. Was der Forschung nicht aufgefallen sein soll, feiert er nun als Entdeckung. Die Hymne dergestalt zu vollenden, begründet er aber nicht zureichend, vielmehr ist er besessen von der Aufgabe, das „Mißlingen“, das Zerbrechen oder den Abbruch bei Hölderlin zu korrigieren. So hat Uffhausen durch die Zusammenführung von bislang drei verschiedenen, sich ausschließenden Fassungen das Gedicht „Der Einzig“ durch Texterweiterung von neun auf zwölf und dann auf 15 Strophen in seiner Gesamtgestalt sichtbar gemacht: „In dieser Form: eine neue Hymne.“

Wie weit darf ein Herausgeber und Interpret gehen? Darf er aus längst bekannten Fragmenten ganz neue Hymnen zusammenbacken, weil er vielleicht das Baugesetz zu kennen meint?

Uffhausens Versuch, 16 bzw. 17 der Späthymnen, von denen nur neun oder zehn in ihrer Endgestalt vorliegen, zu restituieren, will seine Sicherheit darin sehen, daß er die Architektur dieser Gesänge kennt. Für Hölderlin sei es nach 1800 die „imitatio Pindari“ gewesen, die seinen Gesängen und Hymnen jene Größe und dichterische Höhe gegeben habe. Die Nachfolge Pindars erkennt Uffhausen in der Nachbildung der triadischen Strophenform als strukturbildender Einheit der Gesänge. Diese identifiziert er mit dem „kalkulablen Gesetz“ aus den Homburger Aufsätzen und zieht daraus den Schluß, „daß alle Strophen in gleicher Position den gleichen Umfang haben“, daß also bei einem neunstrophigen Gedicht die Strophen 4-7-9 die gleichen Verszahlen aufweisen. Uffhausen meint, damit 22 der 26 Hymnen durch Interpolation vervollständigen zu können.

Der Wille, Hölderlin zu rekonstruieren, schießt über sein Ziel hinaus: nur mit Hypothesen ausgestattet, versucht Uffhausen hier zu harmonisieren und die „intendierte Gestalt“ herzustellen. Bewiesen ist damit noch gar nichts. Zur Überprüfung muß man wohl doch auf Sattlers Faksimiledruck zurückgreifen, dessen Textrekonstruktion in den Bänden 7/8 erwartet werden darf.

Handwerksmäßigkeit der Poesie und Orientierung an der Antike scheinen Uffhausen die Schlüssel für die Moderne zu sein. Im „Vaterländisch-Nationellen“ sieht Uffhausen in der Homburger Zeit, als Hölderlin dort als Bibliothekar arbeitete, das Hauptinteresse des Dichters. Die Gedichte zeichneten sich durch „nationell-politischen“ Stoff und antikisierende pindarische Form aus. Damit, so meint Uffhausen, sei das Bewegungsgesetz von „Progreß“ und „Regreß“ zwischen „Form“ und „Stoff“ festgestellt. Die „rhythmisch-gegenrhythmische Dynamik“ gilt ihm als Beweis für die Zusammengehörigkeit der Bruchstücke. Hölderlin wird zum Poeten der Deutschen stilisiert, denn Uffhausen setzt „Germanien (...) typographisch wie geistig ins Zentrum der Gesamtkonzeption“ des Folioheftes. Sein neuer „ganzheitlicher Ansatz“, so er selbst zur Bezeichnung seiner Textkonstitution, brächte „ein Ende einer langen irrlichternden Ratlosigkeit“, womit nicht zuletzt Sattlers Gegenentwurf zur akademischen Beschäftigung mit den Texten Hölderlins gemeint ist. Wo Sattler mit seiner Phasenanalyse viel Text und Einblick in den dichterischen Prozeß gewährt und zur allegorischen Anverwandlung der Texte einlädt, versucht Uffhausen ein Zerfallen oder Zerbrechen der Form oder eine Fragmentarisierung durch eine behauptete Ganzheitlichkeit zu verwischen und aufzuheben.

Friedrich Hölderlin: „Bevestigter Gesang„

Herausgegeben von Dietrich Uffhausen, Verlag J.B. Metzler

XXXVI + 271 S. mit 16 vierfarbigen Handschriften-Faksimiles, 248 DM.

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