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Holiday as usual

■ Ein Elitenwandel steht an

GASTKOMMENTARE

Die Rückkehr der Massen in die mitteleuropäische Politik ist seit den Montagsdemonstrationen in Leipzig unaufhaltbar; und während die politische Klasse in der Noch-DDR am Boden zerstört liegt, bangt die politische Klasse in der Noch-BRD um ihren Einfluß. Im Bundesdorf Bonn regiert immer offener die Minsterialbürokratie. Bundes- und Länderverwaltungen planen - zumindest auf dem politischen Terrain, nicht so sehr auf dem schwierigen ökonomischen Feld - die baldige Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften endetail. Der drastische Machtverlust der Parlamente ist zugleich auch die Stunde der Exekutive. Der deutsch -preußische Beamtenstaat läßt grüßen.

Die politische Klasse in der Bunderepublik (und dies gilt mehr oder minder für fast alle Funktionäre und Mandatsträger aus allen Bonner Bundestagsparteien, ausgenommen den Grünen) setzte in den 80er Jahren verstärkt auf eine möglichst reibungslose Zusammenarbeit mit der post-stalinistischen DDR -Staatsführung und übersah dabei so gut wie alle Anzeichen für einen tiefen gesellschaftlichen Wandel in Ost- und Mitteleuropa. Die ursprünglich beabsichtigte komplexe Dialektik der Friedens- und Entspannungspolitik erstarrte so immer mehr zur Metternich'schen Status-quo-Politik. Genau diese Ebene ist aber die traditionelle Arena staatlicher Außenpolitik. Zig Parlamentarierdelegationen reisten zwar umher, landeten aber in den Gästehäusern der Staatsparteien und sahen von dort der Demokratiebewegung wahrlich nicht ins Auge.

Die so produzierte Analyseblindheit - und nicht die wachsende Ohnmacht der ParlamentarierInnen angesichts mächtiger oligarchischer Machtzentren innerhalb des Bundestages, wie Johannes Agnoli noch im Jahre 1968 angenommen hatte - aführte in der Zeit des rapiden Wandels in Ost- und Mitteleuropa zu einem Machtverfall des Parlamentarismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ein großer Teil der heute 35- bis 55jährigen MdBs nahmen die vorrevolutionäre Situation hinter der Elbe unter anderem deshalb nicht zur Kenntnis, weil sie um die Sonderexistenz unserer schönen, kleinen, aber nichtsdestoweniger wohlhabenden Bundesrepublik bangten. Und angesichts des drohenden ökonomischen Zusammenbruchs der Noch-DDR fuhren die gefrusteten ParlamentarierInnen wie jedes Jahr in den selbstverständlich wohlverdienten Urlaub; der Sachverstand der Ministerialöbürokratie blieb vor Ort.

Laut Vilfredo Pareto beginnt der „Kreislauf der Eliten“ immer dann, wenn die dort oben nicht mehr weiter wissen und resignieren, und wenn die dort unten (in unserem Falle also die Bevölkerung in der Noch-DDR) nicht mehr warten wollen. Holiday as usual in politischen Umbruchzeiten dokumentiert die Identitätskrise unserer Volksvertretung. Die Transformation der parlamentarischen Demokratie geht weiter. Wer wird die Gunst des Augenblickes erkennen, und für eine radikale Demokratisierung der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften eintreten?

Tilman Fichter

Der Autor lebt in Berlin-Charlottenburg und arbeitet als Referent für Schulung und Bildung beim Parteivortsand der SPD.

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