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„Es ist schlimmer als im Wilden Westen“

■ In der kolumbianischen Drogenmetropole Medellin werden täglich 14 Menschen ermordet

„Jede Menschengruppe, die sich nach neun Uhr auf Straßen oder in Bars aufhält, wird liquidiert.“ Das Ende Juli von unbekannten Verfassern in Umlauf gesetzte Flugblatt ging von Hand zu Hand. Und die Bewohner Medellins, die doch an jahrelange Gewalt gewöhnt sind, hielten sich daran. Die Drohungen, durch eine Vielzahl von Gerüchten nur noch verstärkt, sind ernst zu nehmen. Restaurant- und Kneipenbesitzer werden von bewaffneten Männern aufgesucht, die sie zwingen, die Sperrstunde einzuhalten. Ein anderes Flugblatt droht mit der Erschießung von Frauen in Miniröcken und Shorts. Seitdem einige wegen ihres Aussehens ermordet wurden, trauen sich Punks nicht mehr auf die Straße. Dabei sind die ungewöhnlich freundlichen Bewohner Medellins es gewohnt, sich in der tropischen Wärme draußen aufzuhalten. Nicht die täglichen 14 Morde allein sind das Erschreckende in Medellin - es ist auch die Angst ihrer Bewohner.

„Leute, laßt die Angst zu Hause“: der Veranstalter der Demonstration gegen die Gewalt gibt sich redliche Mühe, die Bewohner des Armenviertels „Popular Nr.1“ zum Mitlaufen zu bewegen. Aus den meist vergitterten Fenstern aber lugen skeptische Gesichter und erst langsam, als der Demonstrationszug sich durch die engen und verwinkelten Straßen schlängelt, stoßen auch noch ein paar Einwohner des in den fünfziger Jahren durch Landbesetzungen erkämpften Stadtviertels zu der gröhlenden linken Militanz.

Während hinter ihr ein Dutzend Polizisten auf ihren Motorrädern bedrohlich nagelneue R-15 Gewehre schwenken, erzählt Betty, Schülerin und Mitarbeiterin der Nachbarschaftsvereinigung von „Popular Nr.1“: „Vorgestern spielten dort oben fünf Jungen auf der Straße Fußball. Plötzlich kamen vier schwarz gekleidete Typen in einem Privatauto vorgefahren und erschossen sie.“ Betty berichtet lakonisch: Solche Dinge sind schon so oft vorgekommen. Die Fußballer, so das Mädchen, wurden halt „ausgeräuchert“. „Es ist schlimmer als im Wilden Westen“, findet eine Menschenrechtlerin.Kein Zweifel: Medellin ist die gewalttätigste Stadt der Welt. Doch wieviele Tote es genau in den letzten Monaten gegeben hat, ist kaum zu erfahren. Für das erste Halbjahr 1990 kommt das Bulletin der städtischen Planungsbehörde auf 2.434 Morde, während die Militärs der in Medellin angesiedelten IV.Brigade 3.160 zählten. Der Leiter der Gerichtsmedizin, Cesar Augusto Giraldo, bei dem schließlich alle Toten ankommen, will keine genaue Auskunft geben. Er zieht es vor, einen komplizierten Vortrag über die internationale Verantwortung in der Drogenproblematik zu halten. Später berichten sowohl ein Mitarbeiter der städtischen Planungsbehörde als auch eine bekannte Anwältin, daß die gängigen Mordstatistiken stark untertrieben sind. Es ist etwas faul in Medellin.

Im Aufzug des Rathauses hat jemand einen kleinen, roten Aufruf an die Bürger aufgepappt: „Sie besitzen die beste Waffe“, steht da zu lesen, „Benutzen Sie sie: Rufen Sie die Polizei an.“ Fraglich ist, ob solch ein Aufkleber auch nur einen der Beamten im Rathaus überzeugt. Denn nicht die Kokainbarone und ihre Todesschützen sind derzeit die Hauptsorge der Bewohner Medellins, sondern die staatlichen Sicherheitsdienste. Gesprächspartner aus allen sozialen Schichten stimmen mit einem Fernsehproduzenten überein: „Der einzige Unterschied zwischen den Killern der Mafia und der Polizei, ist, daß die Polizei uniformiert ist.“

Der Haß der Bürger auf die Uniformierten begann sich erst seit März dieses Jahres herauszuschälen. Ein stillschweigender Waffenstillstand zwischen dem Kartell von Medellin und der Regierung in Bogota war in die Brüche gegangen, und die Kokainbarone verkündeten erneut den Krieg. Neben den bewährten Bombenanschlägen ersannen Pablo Escobar und seine Leute die Ermordung von Polizisten als eine neue Taktik des Terrors. Den in den unzähligen Jugendbanden Medellins rekrutierten Killern wurden von Mittelsmännern des Kartells zwei Millionen Pesos für jeden ermordeten Polizisten versprochen, die hin und wieder auch in ihrem Gegenwert von 4.000 Dollar ausgezahlt wurden. Im Klartext: Die Kokainbarone gaben die schlechtbezahlten und in den gleichen Stadtvierteln wie ihre Mörder lebenden Polizeibeamten zum Abschuß frei. Bis Ende Juli wurden 220 Polizisten ermordet. Nach jahrelangen Schikanen und Erpressungen der Polizei hatte sich vor allen Dingen in den Armenvierteln blanker Haß entladen. „Ich kenne Leute“, erzählt etwa ein Priester, „die ermorden einen Polizisten auch umsonst.“

Nachdem die Behörden die Lage durch eine massive Militarisierung der Stadt zu kontrollieren suchten, begannen die Massaker. Plötzlich war jede Gruppe von sich auf der Straße herumtreibenden Jugendlichen ein potentielles Opfer der sich in luxuriösen Autos fortbewegenden und schwerbewaffneten Todesschützen. Oft geschahen die Gemetzel inmitten jener Stadtviertel, die an allen Ein- und Ausfahrten von der Polizei überwacht wurden.

Der in allen Gesprächen geäußerte Verdacht, die Polizei selber massakriere aus Rache für die ermordeten Polizisten wahllos in der ganzen Stadt Jugendliche, erhärtet sich endgültig nach einem Besuch bei einem hohen Untersuchungsrichter. Ohne Umschweife sagt er: „Die Polizei ist an der ganzen Gewalt schuld.“ Seine Familie und er wurden schon mehrfach beroht. Über seinem schlecht ausgestatteten Büro hängt die Drohung eines Bombenanschlages. Nachdem er in 20 Minuten ein Dutzend Fälle von mordenden Polizisten hat Revue passieren lassen, sagt er zum Abschied: „Wenn mir etwas passieren sollte, dann wißt ihr, wer es war.“

Das gnadenlose Massaker in Medellin hat für die Regierung noch nicht einmal annähernd einen Sieg im Drogenkrieg bedeutet. In dem traditionellen Arbeiterviertel laden Straßenzüge mit einigen schönen alten Häusern zu einem Spaziergang ein. Doch Aranjuez ist ein Viertel, wo das Kartell von Medellin das Sagen hat, und es nicht ratsam ist, ziellos umherzusteunen und dumme Fragen zu stellen. An jeder Straßenecke sind die Graffitis unübersehbar: „AuslieferbareEssen“ und „VerräterTod.“ Eine Frau, die die Schmierereien wegwischen wollte, wurde von Killern der Mafia erschossen. Nicht immer bedarf es solchen Terrors. Nach wir vor ist Pablo, der fast liebevoll beim Vornamen genannte Kokainboss Pablo Escobar, Held und Vorbild. Im Unterschied zur Medelliner Oberschicht hat er immer etwas seines Vermögens für die Armenviertel springen lassen. Noch heute taucht ab und an einer seiner Statthalter in Aranjuez auf. Der fährt dann in einem schicken Auto durch die engen Straßen und winkt bedeutsam, daß ihn auch alle sehen. Der Prister berichtet: „Die Leute fragen sich: Wieso werden die Guten verfolgt?“

„In Medellin gibt es eindeutige Zeichen eines Klassenkampfes“, analysiert der neue Bürgermeister der Stadt, der liberale Omar Henry Florez. Er hat erkannt, daß die Gewalt in der sozialen Ungleichheit verwurzelt ist. 72 Prozent der kinderreichen Medelliner Haushalte müssen mit höchstens und meist viel weniger als 400 DM monatlich über die Runden kommen. 40,6 Prozent der Kinder sind in irgendeinem Grad unterernährt. 20 Prozent der Jugendlichen in den Armenvierteln sind arbeitslos - kein Wunder, daß viele darauf aus sind, in das Drogengeschäft mit seinem immensen und protzigen Reichtum einzusteigen. Der Bürgermeister will nun umgerechnet 160 Millionen DM auftreiben, um Arbeitspläte zu schaffen, Krankenhäuser zu bauen und für die herumlungernden Jugenlichen Parks anzulegen. Auch die steinreichen Privatunternehmer sollen zur Kasse gebeten werden. Kurzfristig sicher wichtiger als soziale Programme, die, wenn überhaupt, erst in Jahren Wirkung zeigen, ist die vom Rathaus angepeilte Demilitarisierung der Stadt. Die Bürger sollen die Straße wiedergewinnen - ohne an jeder Ecke ein Maschinengewehr vor die Nase gehalten zu bekommen.

„Ich bin sicher, es wird besser werden“, meint eine linke Anwältin. „Lo ultimo que se pierde es la esperanza“, heiß es auf spanisch: Das letzt, was verloren geht, ist die Hoffnung.

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