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„Man schweigt, man hält sich zurück“

■ Ein Gespräch mit den russischen Philologen Irina und Vitali Welobrowzew in Tallinn über die veränderte Lage der russischen Bevölkerung in Estland

Sonja Margolina: Wie kamen Sie nach Estland?

Irina und Witali Welobrowzew: Wir sind mit vier und fünf Jahren nach Estland gekommen. Wir sind Kinder von Armeeangehörigen, die an der Befreiung Estlands von den Deutschen teilgenommen haben. Also Kinder von Okkupanten, wie das heute heißt. Okkupanten in der zweiten Generation.

Wann haben Sie begonnen, Estnisch zu lernen?

In der zweiten Klasse. Dann wurde Estnisch fakultativ. Viele wollten die Sprache nicht lernen. Aber wir lernten weiter. Das hat jedoch nichts gebracht. Wir waren praktisch nie mit estnischen Kindern zusammen.

Gab es Streit?

V. W.: Natürlich. Als wir noch eine gemeinsame Schule hatten, das heißt, die estnische und die russische Schule in einem Gebäude waren, haben wir uns in den Pausen mit den Esten geprügelt. In der achten Klasse dann wurde „Freundschaft“ mit den estnischen Kindern „organisiert“, offensichtlich auf Anweisung von oben. Zweimal haben wir „Freundschaftsbesuche“ gemacht. Normale Beziehungen gab es nie. Ein russisches Kind, das in einem russischen Haus wohnte, kam nie mit Esten zusammen, deshalb war es unmöglich, die Sprache zu erlernen.

Und wie haben Sie es dennoch geschafft?

Ich hatte Glück, ich ging zum Fechten. Ich hatte einen estnischen Trainer, der in Moskau studiert hat. Leute, die in Moskau oder Leningrad studieren, haben in der Regel einen weiteren Horizont. Sie begreifen, daß man sich nicht in der Flasche seiner Nation einkorken kann. Diesem Trainer war es egal, welche Jungs bei ihm fechten, estnische oder russische.

Woher kam bei Ihnen die Einsicht, daß man Estnisch lernen muß? Sie hatten ja kaum Kontakt zu Esten.

I. W.: Für mich war es einfach interessant, ich wollte wissen, was die Leute reden und wer neben mir wohnt.

Hatten Sie die Vorstellung, das sei Ihr Land?

Nein, obwohl uns etwas ganz anderes eingehämmert wurde: Das sei alles ein Land, die „unverbrüchliche Union der freien Republiken“. Den Menschen in der Sowjetunion wurde immer beigebracht, sie seien überall zu Hause. Gleichzeitig erschien es uns ganz natürlich, daß wir keine estnischen Freunde hatten. Es gab zwei autonome Lebenswelten nebeneinander. Solange wir nicht an der Uni von Tartu studierten, hat uns das nicht gewundert. Auf einem Kolloquium wurden wir gefragt, ob wir wüßten, daß es an der Uni estnische Nationalisten gebe.

Hatten Sie dort auch keine estnischen Freunde?

Dort war alles anders. In der Fakultät für russische Philologie wurden zwei Gruppen immatrikuliert: eine estnische und eine russische. Wir hatten mit allen Umgang, obwohl unter ihnen auch ziemlich viele Esten aus Sibirien waren. Die Esten, die nicht aus Estland kamen, waren keine Nationalisten, sie waren sehr aufgeschlossen. Obwohl es vor allem Kinder von Deportierten waren, die am meisten unter den Russen gelitten haben. An der Uni haben wir mehr oder weniger perfekt Estnisch gelernt.

Haben Sie im Studentenheim mit Esten zusammen gewohnt?

V. W.: Zuerst war ich in einem Zimmer mit Esten zusammen. Aber die haben mir meinen Schuh aufgeschnitten, damit ich abhaue. Im wesentlichen gab es zwei autonome Welten, und dazwischen die Gruppe der sibirischen Esten, die sowohl mit den einen als auch mit den anderen verkehrten. Die Beziehungen der „echten“ Esten zu den sibirischen Esten waren immer gespannt. Die sibirischen Esten wurden der Übertreibung und Hysterie verdächtigt. Sie waren viele Jahre weit weg und kannten sich wenig in Estland aus. Die Esten haben einen sehr verschlossenen Charakter, sie lassen niemanden an sich heran. Das erklärt sich durch die estnische Geschichte, durch den passiven Widerstand, den sie in sechs Jahrhunderten an den Tag legen mußten.

Sie haben die Universität abgeschlossen. Haben angefangen zu arbeiten. Hatten Sie das Empfinden, daß Sie als Menschen zweiter Klasse behandelt worden sind?

I. W.: Nein. Wir haben uns nicht als Menschen zweiter Klasse, sondern als Fremde gefühlt. Die meisten russischen Intellektuellen fühlen sich schuldig. Jetzt versuchen die Esten, das auszunutzen.

Wie äußert sich dieses Gefühl?

V. W.: Man schweigt, hält sich zurück, mischt sich nicht ein. Aber man kann nicht mit einem ständigen Schuldgefühl leben. Man meint, man müsse sein ganzes Leben lang Buße tun; das ist eine schwere psychische Belastung. Die Esten stoßen vor allem die anständigen Russen weg. Edgar Savisaar, der heutige Ministerpräsident, der in russischsprachigen Kreisen wegen seiner radikalen antirussischen Haltung unbeliebt ist, gab unlängst zu, daß es zwei sehr ernstzunehmende Probleme gibt: die russischen Jugendlichen und die russischen Intellektuellen, die nicht mit den Esten gehen, die sich isoliert fühlen, gekränkt sind und nicht den Enthusiasmus der Esten teilen.

I. W.: Als Savisaar noch ein führender Vertreter der Volksfront war, benutzte er Parolen, die in estnischen Kreisen sehr populär waren. Jetzt ist er Regierungschef und braucht konkrete Resultate. Die Volksfront hat eingestanden, daß man versäumt hat, die Unterstützung der Russen zu gewinnen. Beleidigende, schlimme Angriffe gegen die Russen haben inzwischen einen nicht wiedergutzumachenden Schaden angerichtet.

Wessen hat man die Russen beschuldigt?

Es hieß zum Beispiel, sie seien von Natur aus gewalttätig. Oder: Sie würden die Esten beleidigen, wenn sie Neujahr nach Moskauer Zeit feiern und nicht nach estnischer. Die Politik, die man gegenüber der russischen Intelligenz betreibt, ist nicht durchdacht. Jetzt verläßt die technische Intelligenz das Land. Das wirkt sich sofort aus, das schadet der Wirtschaft und das begreift Savisaar ganz genau. Aber daß der Weggang der geisteswissenschaftlichen Intelligenz noch viel mehr Schaden anrichtet, wird nach wie vor nicht gesehen. Die Regierung hat immer noch nicht begriffen, was die geisteswissenschaftliche Intelligenz bei der Erziehung der russischen Bevölkerung in Estland leisten könnte. Das ist das alte kursichtige sowjetische Denken. Die Situation in Estland ist typisch sowjetisch, nur mit umgekehrten Vorzeichen.

V. W.: Die Regierung hat eine andere Vorstellung: Wozu brauchen wir die Russen? Sollen sie doch alle abhauen. Estland gehört in Zukunft den Esten.

Aus welchem Grund verläßt die technische Intelligenz das Land und inwieweit ist das eine Massenerscheinung?

Ob das eine Massenerscheinung ist, läßt sich schwer beurteilen, und das interessiert auch niemanden. Die technische Intelligenz hat begriffen, daß sie hier keine beruflichen Perspektiven mehr hat. Befördert wird immer ein Este, und nicht der bessere Spezialist. Die Frage „Russe oder Este“ wird nicht nach dem Prinzip des größten Nutzens entschieden, sondern nach nationalen Gesichtspunkten.

Egal, ob man die Sprache beherrscht oder nicht?

I. W.: In der Regel kann die technische Intelligenz kein Estnisch. Die Ingenieure benutzen meist Instruktionen, die aus dem Zentrum (Moskau, d. Red.) kommen.

Ist nun die Begrenzung des beruflichen Fortkommens durch die Unkenntnis der Sprache bedingt oder ist das eine Methode, die Russen hinauszuekeln?

Bis Anfang der Vierziger Jahre gab es hier hundertmal weniger Russen als jetzt. Ihre jetzige Zahl - 40 Prozent der Bevölkerung in Estland - wirkt sich nicht besonders günstig auf die Bevölkerungsstruktur aus. Man stelle sich nur ein anderes kleines Land mit einer fremden Bevölkerung von 40 Prozent vor. Eine Emigration der Russen aus Estland ist unumgänglich. Das wird vor allem hochgebildete Intellektuelle betreffen, die besonders empfindlich auf Diskriminierung reagieren. Sie wissen, wohin das führt. Die Russen werden mit allen Mitteln hinausgeekelt.

Wie ist der Unterricht für Russen in estnischer Sprache organisiert? Es gibt dazu doch einen Regierungsbeschluß.

V. W.: Der Staat ist nicht an diesem Problem interessiert. Es gibt keine Grundlagen, kein Geld, keine Leute, die sich damit beschäftigen. Alles in allem: der gewöhnliche Sozialismus, den wir alle kennen.

Merken Sie an sich selbst den Einfluß der Estnifizierung?

I. W.: Estnische Literatur wird immer seltener ins Russische übersetzt. Wir werden also arbeitslos. Trotzdem ist das ein ganz normaler Prozeß. Viel schlimmer ist etwas anderes. Abgänger russischer Schulen haben kaum eine Chance, in Estland eine höhere Bildung zu erlangen. Die Leute, die jetzt an der Macht sind, sind Parteimitglieder, Produkte des sowjetischen Systems. Sie haben sich bloß um hundertachtzig Grad gedreht und schaffen jetzt einen nationalen Staat.

Werden Sie in Zukunft also überhaupt keine Arbeit mehr haben?

Ja, das kann uns passieren.

Würden Sie das Land verlassen?

Nein. Wohin sollen wir ziehen? Wir haben uns an das Leben hier in Estland gewöhnt. Wenn ein Mensch vom vierten Lebensjahr an in ein und derselben Stadt lebt, dann ist das seine Heimat. Hier sind unsere Freunde, unser Kreis. Wir sind an die hiesige Lebensweise gewöhnt, an die Traditionen, wir kennen den Charakter der Esten, ihre Kultur. Deshalb ist es für uns sehr bitter, daß es so viel Unverständnis zwischen zwei Nationalitäten gibt, wo es doch Verständnis geben könnte. Und zu diesem Verständnis könnte die russische Intelligenz beitragen.

Aber Sie haben doch gesagt, die Esten wollen das gar nicht?

Es gibt eine Unmenge von Esten, die russische Freunde haben. Viele möchten gerne, daß mit den Russen anders verfahren wird. Auch wenn es dazu gegenteilige Auffassungen gibt.

Haben Ihre estnischen Freunde Sie verlassen, sind es weniger geworden?

Keiner hat uns verlassen. Wir hatten nicht viele Freunde, unsere Beziehungen sind so geblieben, wie sie waren. Unsere Freunde sind vor allem Literaten und Schriftsteller. Die Freundschaften waren stärker als die Mischehen, die jetzt auseinanderfallen. Es gibt sehr viele Scheidungen von russisch-estnischen Ehen.

V. W.: Sie wissen doch, wie es mit der Volksfront losging: Einer ihrer Theoretiker erklärte, die Kinder aus Mischehen seien „eine Frucht des Internationalismus im Bett“. Diese Kinder würden die Situation in Estland am meisten verkomplizieren, weil man nicht wisse, zu welcher Nation man sie zählen soll.

Das heißt, daß Esten, die mit Russen verheiratet sind, nicht als vollwertige Esten betrachtet werden?

I. W.: Diese Esten merken bald selbst, daß sie keine „vollwertigen“ Esten sind, wenn ihr Ehepartner Russe ist.

Sind Sie auch der Meinung, daß die Esten „russophob“, russenfeindlich sind?

V. W.: Ich zitiere den Ausspruch eines estnischen Schriftstellers, Vetemaa: „Das 'Hände hoch‘, das die Russen in Deutsch hörten, hörten die Esten seit 1939 in der Sprache Puschkins“.

Aber die Russen sind doch nicht deutschfeindlich.

Der russische Dichter David Samoilov, der in Estland lebte, hat Vetemaa widersprochen: Er sagte nämlich, daß weder die einen noch die anderen dieses „Hände hoch“ in der Sprache Puschkins oder Goethes hörten, sondern in der Sprache der Unterdrücker.

Steht Vetemaas Ausspruch für die Position des estnischen Volkes?

Ja.

Übersetzung: Antje Leetz

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