Erleuchtung auf dem Leichenacker

■ „Götter des Himalaya . Buddhistische Kunst Tibets“ in Dahlem

Völlig fremd stolpere ich bei der ersten Begegnung mit der buddhistischen Kunst Tibets in der Sonderausstellungshalle Dahlem durch den Kosmos ihrer Gestalten. Geblendet schon allein von der or namentalen Pracht der stofflichen Einfassung der Rollbilder, faszi niert vom manchmal ohne Vergrößerungsgläser kaum noch zu entziffernden Detailreichtum der Malerei, verwirrt von der Vielzahl des Personals (bis zu 435 Gottheiten auf einem Bild), unfähig zur Entschlüsselung der Symbolik, die jeder Farbe, jeder Geste der Hand, jedem Element des Kostüms, der Architektur und der Landschaft komplexe Bedeutungen zuweist, bin ich zunächst unfähig, auch nur die Gestalten von Buddhas und Heiligen, von Erleuchteten und Lehrmeistern, von den Initiations- und Schutzgottheiten auseinanderzuhalten.

Aber noch bevor ich mich mit Hilfe der Texttafeln und des Katalogs an die ikonographischen Typisierungen der großen Gestalten wage, die fast immer im Mittelpunkt einer mit vielen kleinen Szenen durchwobenen Landschaft thronen, fallen mir wiederholt an den Rand gedrängte Szenen mit flammenumlohten tanzenden Skeletten, zerissenen menschlichen Körpern und wilden Tieren auf. Geier tauchen ihre Schnäbel in blutig aufgerissene Leiber, Raubtiere zerren die Eingeweide aus dem Bauch. Auf einem Bild aus dem frühen 18. Jahrhun-dert nehmen sogar die Felsen am Rande das Aussehen eines kauernden Wolfes an, der zwischen den Zähnen den Kopf einer Leiche hält. Vielleicht nur, weil dieser makabre Bildteil der abendländischen Ikonographie nahesteht, mittelalterlichen Totentänzen und barockem Memento mori verwandt, vielleicht auch, weil durch seine Winzigkeit die Gefahr eines eurozentrischen interpretatorischen Fehlschlusses nicht so groß scheint, suche ich zuerst nach seiner Bedeutung.

Tatsächlich gilt diese grausliche und einsame Szenerie als Spiegelbild des irdischen Lebens, das sonst kaum eine Rolle als Gegenstand der Bilder spielt. Die marginalen Leichenäcker, realistische Einsprengsel im symbolischen Bildprogramm, bilden einen Ausgangspunkt für das Verständnis der rituellen Funktion der Bilder. An diesen Punkten beginnt die meditative Reise des Betrachters; die Leichenäcker bezeichnen bevorzugte Orte der Versenkung der Yogis. Diese sitzen oft inmitten der Toten, Dämonen und wilden Tiere und verehren, ihre Angst überwindend, ein heiliges Monument. Sie spiegeln im Bild selbst die Situation des Betrachters und erleichtern ihm den Einstieg in die visionäre Bildwelt. Mit ihnen beginnt er, im Geist den Ort der irdischen Leiden zu überwinden und sich auf die Suche nach den Gottheiten in seinem Inneren zu begeben.

Der evangelische Theologe Gerd-Wolfgang Essen, der seit über zwanzig Jahren tibetische Kunst sammelt, konzipierte die Ausstellung und den Katalog, um damit einen wichtigen Teil seiner Sammlung, die Skulpturen, Rollbilder, kultisches Gerät und Bücher umfaßt, zu publizieren. Dem Katalog ist eine Botschaft des Dalai Lama vorangestellt, der angesichts der Zerstörungen des kulturellen Erbes Tibets dem Sammler für die Bewahrung dankt und der Ausstellung eine missionarische, um Aufmerksamkeit und Verständnis werbende Funktion zuschreibt. Bis ins 20. Jahrhundert hinein entstand die tibetische Kunst eingebunden in religiöse und rituelle Praktiken und spiegelt eine sich über die Religion definierende Kultur. Daß die Bilder, von denen einige sonst mit vielen Vorhängen verhangen waren und in gesonderten Bezirken des Tempels nur den auf den Stufen der Initiation fortgeschrittenen Buddhisten als meditatives Hilfsmittel dienten, nun im Museum unseren Augen preisgegeben sind, bestätigt die Zerstörung ihrer rituellen Funktion und macht sie zum historischen und musealen Dokument.

Viele Exponate stammen aus dem 18. und 19., einige reichen bis ins 10. Jahrhundert zurück. Doch da die stilistischen Veränderungen in der Behandlung der über Jahrhunderte tradierten Bildformeln gering sind, hat Essen seinen buddhistischen Crashkurs nicht chronologisch, sondern nach ikonographischen Gruppen aufgebaut. Mit der Buddhagestalt beginnt die Auffächerung des fremden Pantheons.

Die Bildteile, die mit konkreten Handlungselementen vom irdischen Leben Buddhas und dem seiner legendären Anhänger und Lehrmeister berichten, lesen sich einfacher und vertrauter als die visionären, in komplexen Symbolen kodierten Elemente des religiösen Erlebens. Eine erzählerische Lehrtafel (18. Jahrhundert) schildert in zwölf Stationen das Leben Buddhas, beginnend mit seiner übernatürlichen Empfängnis. Seiner Mutter Maya erscheint im Traum, verbildlicht in einer Wolke, ein weißer Elefant. Wir sehen, wie das Kind aus ihrer Seite schlüpft; wir können den jungen Buddha beim Schwimmen und auf der Elefantenjagd verfolgen; wir sehen ihn auf dem Thron und bei der ersten Begegnung mit Kranken und Sterbenden. All diese Szenen sind in eine fast aus der Vogelperspektive aufgenommene Landschaft eingebettet, in der schroffe Felsformationen, Schluchten, Höhlen, Bäume, Paläste, Buchten und Flüsse die biographische Topographie unterteilen. Schon durch diese surreale Komposition wird jede Durchquerung des vorgestellten Raumes zugleich zu einer Fahrt durch die Zeit.

Der Vorstellung der unterschiedlichen Verkörperungen Buddhas folgen die Heiligen, Heilsvermittler, Lehrmeister und Lamas. Aus der einen Figur falten sich in einem unendlichen Prozeß, vergleichbar der Zellteilung, neue Gestalten hervor; ein Geflecht von Analogien zwischen den verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung und der Erkenntnis, zwischen leiblicher und geistiger Existenz, zwischen historischer und überzeitlicher Bedeutung hält sie zusammen. Doch im gleichen Maß, in dem das Figurenprogramm durch seine quantitative Steigerung ins Unüberschaubare anwächst, schleifen sich die Lesarten der Bilder als Landkarten der Meditation ein. Sie zeichnen Stationen und Begegnungen der inneren Reise vor. Je dichter die Textur ihrer Symbole wird, desto weniger bilden sie das Ziel der Reise ab, das sich undarstellbar in ihnen verbirgt für den, der bis zur Selbstauflösung in sie eintauchen kann. Mit der beschreibbaren Fülle der ausformulierten Details wird auf das in keiner Form zu Denkende, alles Umfassende und Auflösende verwiesen, für das die sich an unterscheidbare Einheiten klammernde Sprache nur Begriffe wie Nichts oder Leere zur Verfügung hat. Wenn das Bildgeschehen zur inneren Vision geworden und so vom Betrachter selbst wieder wie zuvor vom Künstler hervorgebracht worden ist, dann ist die Bildfläche frei zur Projektion seiner selbst als Teil des Ganzen.

Sich solche meditativen Prozesse ohne Erfahrung konkret auszumalen ist ziemlich unmöglich für jemanden wie mich, der schon bei der einfachsten Yogaübung nur Visionen vom danach zu verspeisenden Mahl erscheinen. Also halte ich mich an das Sichtbare.

Da erwecken vor allem die zornvollen Figuren der Initiations- und Schutzgottheiten die Neugierde. Unter ihnen findet sich der gehörnte Vogel Garuda und die dreifache Mutter der drei Welten, denen man noch ihre Herkunft aus älteren Kultformen des Glaubens an Naturgottheiten und weibliche Götter ansieht. Einige der Intiationsgottheiten, oft mit einer Partnerin in der Vereinigung begriffen, und der Schutzgötter haben nicht die verklärten sanften Physiognomien der Gelehrten. Sie rollen mit hervorquellenden Augen, oft mit dreien und mehr, reißen die Münder auf, blecken die Zähne. Sie reiten auf Tigern und Bären. Sie zerstampfen unter ihren Füßen Menschen, Tiere, Lamas und Götter. Sie tragen Ketten aus Menschköpfen, von denen manche das Gesicht noch in Angst und Schrecken verziehen. Flammenmeere und Blutseen umgeben sie. Sie schwingen vielarmig das Kultmesser, saufen Blut aus Schädelschalen und beißen in fleischige Herzen.

Und diese schreckvollen Gestalten sollen Hilfe auf dem Weg zum inneren Frieden bringen; in ihrer Betrachtung befreit sich der Meditierende von seinen eigenen dunklen Gedanken. Sie unterstützen den Prozeß der Selbstreinigung. Ihre rollenden Augen sind die alles sehenden der Weisheit. Ihre Nacktheit ist die der unverschleierten Wahrheit. Die barbarische Kette der Schrumpfköpfe gemahnt an die Vergänglichkeit. Die Zerquetschten unter ihren Füßen verkörpern die besiegten Leidenschaften, ebenso wie sie mit dem Blut, das sie trinken, und dem Herz, das sie essen, die Quelle der menschlichen Begierden vernichten. Mit dem Messer kappen sie die Wurzeln der Unwissenheit, gegen das auch ihr Feuer wütet. Ihr Zorn entsteht aus dem Mitleid.

Aber immerhin nageln sie niemanden ans Kreuz.

Katrin Bettina Müller

Götter des Himalaya . Buddhistische Kunst Tibets. Sonderausstellungshalle Dahlem, Di. bis Fr. von 9 bis 17 Uhr, Sa. und So. von 10 bis 17 Uhr; Katalog 48 DM.