: S T. LENINGRAD UM 1990
■ Saxophone hinter der Newa, gloria in excelsis deo
Saxophone hinter der Newa, gloria
in excelsis deo
VON SOLVEJG MÜLLER
Beim Eintritt in eine der zwanzig „arbeitenden“ Kirchen Leningrads zeigen alte Frauen den Touristen, wie man sich korrekt bekreuzigt. Sie bestehen auf der akkuraten Einübung des Rituals.
Im Lenin-Museum herrscht gespenstische Leere. Die Einsamkeit der Lenin-Reliquien und der kühle graue Marmor des Palastes lassen dieses Museum noch musealer als andere wirken.
Nachts in der Metro: James-Dean-Haarschnitt, enge Jeans; ein Muscle- Shirt zeigt viel vom durchtrainierten Oberkörper.
Leningrad soll wieder Petersburg heißen, soll wieder Hauptstadt werden, soll Freie Handelszone sein.
Die Texte von Joseph Brodsky, 1940 in Leningrad geboren, 1972 zur Ausreise gezwungen, 1987 Nobelpreis für Literatur, sind immer noch verboten.
In einer Wohnung wird das Weiß des Eisschranks durch das Blau-Weiß eines „Nivea„-Aufklebers unterbrochen. „Wir hatten einmal eine solche Dose“, berichtet die Familie.
Für die Universität wird zur Zeit ein neuer Name gesucht bislang hieß sie Schdanow-Universität. Schdanow leitete während des letzten Krieges die Verteidigung der Stadt und galt als ein möglicher Nachfolger Stalins.
Drei Werke Freuds sind nun offiziell ins Russische übersetzt, aber keines ist zur Zeit im Buchhandel erhältlich.
Auf dem zentralen Newskij-Prospekt hat sich vor dem größten Buchgeschäft der Stadt eine lange Schlange gebildet. Um die hundert Leute stehen für den Bestseller des Tages an - zwei Ratgeber für Obst- und Gemüseanbau. „So etwas gibt es sonst in den Geschäften nicht. Da kann man nur Lenin kaufen.“
An der gleichen Stelle verscherbeln Schwarzmarkthändler Armeerequisiten, Orden, Uniformjacken, Uhren mit dem Sowjetstern. Weiter südwestlich - bei den fliegenden Händlern rund um die Mauerreste in Berlin - wird ein Teil davon um einiges teurer angeboten.
Der Ausverkauf, die Demontage der einstmals revolutionären Ikonen, hat begonnen, auch in Leningrad oder gerade hier in Leningrad, der traditionell revolutionärsten Stadt der Sowjetunion. 1825 gab es den Dekabristenaufstand, 1876 die erste sozialrevolutionäre Demonstration auf russischem Boden. Im Januar 1905 ziehen 100.000 Arbeiter zum Winterpalast und fordern Reformen, 1917 besetzen die Bolschewiken die strategisch wichtigsten Punkte der Stadt. Die Fortsetzung ist bekannt.
Und jetzt massieren sich in Leningrad die Anzeichen, daß die seit einigen Jahren in Gang gesetzte Umbruchsituation sich verschärft und an die Grenzen ihrer Erträglichkeit für viele der EinwohnerInnen der Stadt gerät. In Gesprächen zeigen sich abwechselnd Angst, Apathie, eine ungeheuere Wut auf alle Funktionäre, die Furcht vor einem Militärputsch, der von vielen für das nächste Jahr prognostiziert wird. Und manch einer sagt einen Bürgerkrieg voraus. Die Lenin-Ikonen sind bereits ihrer Aura beraubt. Ein Passant spuckt demonstrativ aus, als er an einer Hauswand die mit dem Kopf Lenins verzierte Losung: „Die Beschlüsse des 27.Parteitags sind zu erfüllen!“ liest.
Die Kathedrale
ist ihr eigenes Museum
Neue Heilige werden also auch in Leningrad gesucht, und zwar dort, wo sie herkommen, in der Kirche. Dank Gorbatschows Liberalisierungspolitik sind nun etliche Kirchen in der gesamten Stadt eingerüstet, werden restauriert, verlieren ihre Funktionen als Lagerhallen, Ausstellungsräume und Museen. Eine der größten Kirchen der Stadt, die monströse Kasaner Kathedrale, dem Petersdom nachgebaut, beherbergt seit 50 Jahren ein Museum, dessen Name bis vor kurzem in großen Lettern an der Frontseite angezeigt war: „Museum für die Geschichte der Religion und des Atheismus“. Das Museum existiert noch, doch die weithin lesbare Aufschrift fehlt jetzt. Nur ein winziger Seiteneingang, auch hier kein Hinweis auf ein Museum, führt ins Innere. Ziel der Sammlung, zu der Kultgegenstände, Statuen, Bücher verschiedener Religionen gehören, ist die Aufdeckung des unwissenschaftlichen Wesens der Religion. Gipsköpfe von Voltaire, d'Alembert, Feuerbach und Karikaturen über den Klerus aus der Zeit der Französischen Revolution sollen Kritik und Kritiker des Idealismus anschaulich machen.
Auch die Isaak-Kathedrale, der drittgrößte sakrale Kuppelbau der Welt, wurde 1928 in ein Museum verwandelt. Lange Zeit hing hier das endgültig durch Umberto Eco berühmt gewordene Foucaultsche Pendel, das die Erddrehung anzeigt und somit für die platte Parteiphilosophie ein Beweis für die Nichtexistenz Gottes war. Das Pendel hängt hier nicht mehr, die Kathedrale ist aber noch ihr eigenes Museum, stellt sich selbst aus - aber wie lange noch?
Die Suche nach Bollwerken gegen die Angst zeigt sich nicht nur im Wiederaufleben religiöser Traditionen, sondern auch im rückwärts gewandten Blick auf die Zarenzeit, die architektonisch in Leningrad ständig präsent ist. Zahlreiche Schlösser und Paläste lassen den eigentlich sozialistisch Sozialisierten vom Prunk vergangener Jahrhunderte träumen. Und noch etwas anderes, für diese Stadt ganz Spezifisches kann Halt, vermeintlichen Halt geben: die Konstruktion der Stadtanlage.
Triumph der Mathematik über den Morast
Und in der Tat ist Leningrad eine der schönsten, konstruiertesten und jüngsten der Weltstädte, knapp 300 Jahre alt. Jünger sind meist nur auf dem Reißbrett entworfene Hauptstädte der Dritten Welt. Etwas von der Atmosphäre einer Kolonialstadt, immer noch neu und ein bißchen fremd am Platze, läßt sich auch in Leningrad spüren. Doch alle Dimensionen einer Stadt sind hier ins Gigantomanische übersteigert. Leningrad ist keine über eine lange Zeit gewachsene Stadt, sondern sie ist dem Größenwahn, dem Kunstsinn, der Vision Peters des Großen und dem starken Wunsch nach westlicher Assimilation, den die russische Aristokratie im 18. und 19. Jahrhundert hegte, entsprungen. Die immense Künstlichkeit der Stadt, auf Sumpf gebaut, die Simulation italienischer Paläste und Kathedralen, das Wassernetz, die Öffnung zur Ostsee, die perspektivische Anordnung der Straßen, unterstreichen den Machtgestus dieser Stadt.
Der Triumph der Mathematik über den Morast und die Geborgenheit im Planquadrat bieten einen kleinen Schutz gegen all die großen gegenwärtigen Zukunftsängste. Was unter den Straßen liegt, der Sumpf und die Knochen von Hunderttausenden von Leibeigenen, die die Stadt errichtet haben, muß vergessen bleiben, würde ansonsten noch mehr Angst verbreiten.
Das Fragile dieser Stadt, von dem immer wieder berichtet wird, rührt auch von der Orientierung auf das Wasser her: Auf 44 Inseln ist Leningrad errichtet, und rund 500 Brücken überspannen die 68 Kanäle und Flußarme der Stadt. Wenn Ende Juni die Mittsommernacht es nicht dunkel werden läßt und wenn das silbrige Licht der „weißen Nächte“ den Eindruck einer Stadt-Fata-Morgana erweckt, eröffnet sich einem erst richtig das Netz dieses Phantoms, das auch schon früher an Kulissen erinnern mußte. Auf Befehl eines Zaren mußten reiche Bürger ihre Häuser an den Ufern der Newa bauen, aber meist waren diese Häuser unbewohnt, weil deren Eigentümer Angst vor einer Überschwemmung hatten. Brodsky schreibt in seinen Erinnerungen an Leningrad über die Newa: „An diesem Fluß standen prachtvolle Paläste mit so wunderschön gestalteten Fassaden, daß, wenn der kleine Junge am rechten Ufer stand, das linke Ufer aussah wie der Abdruck einer riesigen Molluske namens Zivilisation. Die ausgestorben war.“
Vor dem Schlund
in den Hades
Nicht weit von den Palästen entfernt zeigen sich - schon rein architektonisch gesehen - Risse im Netz, Einbrüche in die vermeintlich Sicherheit spendende Symmetrie. Ein Platz wie eine Wunde, aufgerissen, kaum gepflastert, Schorf und Schotter, in der Mitte eingezäunt ein Schlund tief hinab in die Erde, Abstieg in den Hades. Vor dem Eingang zur Metro „Friedensplatz“ stehen im Staub oder sitzen auf hohen Schemeln alte Frauen vor einer Waage. Sein Körpergewicht feststellen zu lassen kostet fünf Kopeken. Hier am Tor zur Unterwelt, der Schlund ist ein Bauloch für eine weitere U -Bahn-Linie, wird man gewogen. Vielleicht kommt man davon, wird als zu leicht befunden ...
Auch hier, wie an jeder Metrostation der Fünfmillionenstadt, spuckt die Bahn im 90-Sekunden-Takt einen ständigen Strom von Menschen aus und saugt sie auf der anderen Seite wieder ein. Ein archaischer Koloß richtet sich neben dieser U-Bahn-Station auf. Der gewaltige Bauklotz, ein Abfallprodukt der Baustelle, ist von oben bis unten vollgeklebt mit weißen, abreißbaren Zetteln, die von weitem an Gebetsfahnen erinnern. Der Klotz vermittelt Wohnungen. Er umgeht die schwerfällige Bürokratie. Im Winde flattern die Adressen von freien Wohnungen. Die Straßen, die von hier ausgehen, werden irgendwann asphaltiert. Im Moment liegen sie nackt da. Das Skelett der Straßenbahnschienen ragt weit über den Boden hinaus. Lauch, Tomaten, Gurken und Sonnenblumenkerne werden hier an kleinen Ständen verkauft. Mietshäuser aus dem 19. Jahrhundert säumen den Platz und seine Nebenstraßen.
Früher war hier einmal der Heumarkt, eines der verrufensten Viertel von Petersburg - das Viertel der Wucherer, der Händler, der Huren und der Besoffenen. Dostojewski bezog in diesem Karree verschiedene Wohnungen. Sein Mörder Raskolnikow, seine Dämonen und Besessenen mischten sich in dieser Gegend unter die anderen zerlumpten Gestalten. Während der deutschen Blockade, 900 lange Tage in den Jahren 1941-44, die nach neuesten Schätzungen ungefähr eine Million Menschen verhungern ließ, wird dieser Platz zum zentralen Schwarzmarkt für Überlebensmittel.
Heute gehört zu diesem Viertel einer der größten Kolchosmärkte von Leningrad. In der Markthalle werden Fleisch, Fisch, Honig, Erdbeeren, Weintrauben, Ingwer, Früchte, Gewürze und Rosen, immer wieder Rosen angeboten. Doch wenn man sich vor Augen hält, wer hier kaufen kann, wird die ganze Pracht getrübt. Im Moment kostet zum Beispiel ein Kilogramm Kirschen zehn Rubel. Der monatliche Durchschnittsverdienst beträgt 200 Rubel, Rentner und Rentnerinnen haben oft nicht mehr als 40 Rubel im Monat. Vor der Markthalle haben sich noch einige Privatverkäufer plaziert - der eine will einen Fisch verkaufen, notdürftig auf einer Straßenmauer auf Eis gelegt, ein anderer hält eine Perücke hoch, ein dritter möchte Käufer für eine Wolldecke gewinnen. Ein Auto stoppt und wird sofort umlagert. Die schwer erhältlichen, nur in geringer Auflage gedruckten privaten Zeitungen werden dem Fahrer, der nicht einmal aussteigen muß, aus der Hand gerissen. Die tagtägliche, langwierige Organisation von lebenswichtigen Dingen macht apathisch, läßt zeitweilig die Angst vergessen. Gegenüber der Markthalle werden die Ikonen in der offenen Kapelle besonders nachdrücklich geküßt.
„Langnese“ - Bild
künftiger Hoffnungen
Brodskys Verse: „Saxophone hinter der Newa / gloria in excelsis deo“ (aus dem Gedicht Die Prozession), sind in diesem Stadtteil wörtlich zu nehmen. Der einzige Jazzklub der Sowjetunion, ebenfalls eine Neuerung des letzten Jahres, hat hier sein Domizil. Die Klänge des Saxophons weisen in die westlichen Exklaven der Stadt. Gleich neben dem Jazzklub, im traditionellen Arme-Leute-Viertel, läßt das Variete-Restaurant „Troika“ nur DevisenbesitzerInnen ein. Diese Joint-venture-Lokale, von denen es inzwischen einige in Leningrad gibt, verändern punktuell das Stadtbild, Vorreiter einer neuen Ikonenlandschaft... In einer Nebenstraße des Newskij, am malerischsten aller Kanäle, vor dem Hintergrund der Blutkirche ein Bild künftiger Hoffnungen - eine „Langnese„-Reklametafel auf dem Bürgersteig macht auf ein vor kurzem gegründetes Eiscafe aufmerksam. Zutritt nur mit harter Währung.
Noch gibt es in Leningrad nur ein einziges Fastfood-Mobil. Doch die Idole der westlichen Welt besetzen schon die klassizistischen Kulturtempel der Stadt. Im wunderschön restaurierten „Kleinen Opern- und Ballett-Theater“ fällt als erstes eine neongrüne Theke mit der Aufschrift „High Quality - Products of Finland“ auf. Die Theke ist leer. Das große Coca-Cola-Emblem darüber wirkt noch deplazierter.
Doch verläßt man diese fast exterritorialen Gebiete um Mitternacht, dann glänzt nur noch das edle Gerippe der Stadt im blassen Licht der weißen Nacht. Brodskys Erinnerung drängt sich auf: „Die schönste Stadt auf dem Antlitz der Erde.“ Einen Moment lang ist es so, als gäbe es keine Angst in dieser Stadt. Die Newa fließt ins Offene, ins Freie, ein letzter Ton des Saxophons verhallt über den Inseln. Doch am nächsten Morgen sitzen die Frauen am Friedensplatz an ihren Waagen, die Ikonen der letzten siebzig Jahre werden weiter abmontiert, ganz neue und ganz alte Heilige halten weiter Einzug in die Stadt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen