: Die Wand an meiner Seite
■ Erinnerungen an das Leben im Schatten der Mauer/Der 29. Jahrestag des Mauerbaus. Das Jahrhundertwerk hat seine Schrecken verloren und zerfällt. Geblieben sind uns die Erinnerungen an das Leben vor dem 9. ...
Erinnerungen an das Leben
im Schatten der Mauer
Der 29. Jahrestag des Mauerbaus. Das Jahrhundertwerk hat seine Schrecken verloren und zerfällt. Geblieben sind uns die Erinnerungen an das Leben vor dem 9.November. An das Leben im Schatten einer Wand, mit der man aufwuchs und die im Laufe der Zeit ihr Gesicht veränderte: vom Schutzwall bis zum Notausgang. Kein zorniger Rückblick, nur ein Versuch, Bilder festzuhalten, die vielleicht erklären können, warum diese Grenze fast drei Jahrzehnte beinahe unangefochten ein Land beherrschte.
VON ANDRE MEIER
Der 13. August 1986. Ich liege mit meiner Tochter auf einer Wiese im Friedrichshain und danke Gott, daß er sie schlafen läßt. Aus der Ferne dringt Marschmusik und Motorenlärm zu uns herüber, denn die greise DDR-Führung feiert mit ihren Getreuen den 25. Jahrestag des Mauerbaus. Kampfgruppen -Hundertschaften ziehen die Karl-Marx-Allee entlang. Mit ihnen auch Helmut Rieger, Kaderleiter im VEB Berlin Chemie, ein alter Kämpfer, der schon 1961 dabei gewesen war. Damals stand er, den Karabiner K98 auf der Schulter, in Treptow nur wenige Meter von dem Haus entfernt, in dem ich, kaum älter als meine Tochter 25 Jahre später, ungeachtet aller politischen Krisen in einem weißen Gitterbett schlief.
Mit dem Gesicht
zum Feind
Mit dem Gesicht nach Westen stand Genosse Rieger 24 Stunden, ohne abgelöst zu werden, während hinter ihm Bereitschaftspolizisten begannen, Stacheldrahtsperren aufzubauen. Sie errichteten - geschützt durch die Freiwilligenverbände - jenen Wall, der für Helmut lange Zeit ein Antifaschistischer blieb. Jahre später, am Vorabend der Jubiläumsparade 1986, erklärt er in einem Interview: „Die Mauer ist eine Realität der Gegenwart, und insofern müssen wir heute mit ihr leben. Ob meine Kinder oder Enkel damit leben müssen, das können sie bei Lenin nachlesen... Natürlich bin ich als Marxist davon überzeugt, daß eines Tages mal auf der ganzen Welt Kommunismus sein wird, aber das müssen die Bürger der Bundesrepublik entscheiden, wie lange sie unter ihrem augenblicklichen System leben wollen. Nach meiner Überzeugung als Marxist müßte die Mauer von drüben abgebaut werden.“ Ich hoffe, Helmut ist seinen Idealen treu geblieben, diskutiert mit anderen versprengten Genossen in einem PDS-Wohngebietszirkel Wahlkampfstrategien und gehört nicht zu jenen Kämpfern, die vor Aldi ihre paramilitärischen Erfahrungen ausspielen und junge Polen an die Wand drücken. Aber wer weiß, vielleicht hat auch er schon alles vergessen, und die Mauer, die jetzt Stück für Stück abgetragen, verbaut oder verkauft wird, ist auch für ihn nur noch ein Hindernis auf der Einkaufsfahrt nach West -Berlin.
Verrat an den Kollegen der Schaltgerätefabrik
August 1990. Die Mauer ist vor mir gestorben, und während ich meinen dreißigsten Geburtstag in Italien feiere, wird sie im nächsten Jahr ihren Geburtstag nur noch zerstückelt und über die Welt zerstreut erleben können. Vor einem Jahr noch stand sie dick und weiß in der Sonne, und keiner glaubte an ihr schnelles Ende. Honecker gab seinem Kind noch hundert Jahre, ich hätte keinen Arzt gefunden, der meine Lebensaussichten ähnlich optimistisch beurteilt hätte. Doch jetzt, wo sie nicht mehr oder kaum noch steht, frage ich mich, was das für ein Ding war, das Helmut und seine Genossen im Jahr 1961 vor unsere Haustür setzten.
Rieger stand in Treptow, um - wie er glaubte - die Heimat vor Neuköllner Faschisten zu schützen. Die begnügten sich aber vorerst damit, den Mauerbauern Camel-Schachteln vor die Füße zu werfen. Für die Leute im Westen war er ein Russenknecht, der darüber wachte, daß kein unterdrückter Treptower aus der Sowjetzone fliehen oder im freien Teil der Stadt arbeiten konnte. So wie Karin Dietrich, eine zwanzigjährige Arbeiterin aus dem größten Industriebetrieb des Stadtbezirks, dem EAW. Sie kündigte im Herbst 1960 und nahm eine Arbeit in West-Berlin auf. Die Betriebszeitung 'Roter Blitz‘ veröffentlichte ein Flugblatt mit Karins Adresse, ihrem Foto und einem kämpferischen Begleittext: „Das ist Verrat an unserer Deutschen Demokratischen Republik und somit auch an den Kollegen der Schaltgerätefabrik. Sie wohnt im demokratischen Berlin, nimmt alle Vorteile unserer sozialistischen Gesellschaftsordnung in Anspruch - verkauft aber ihre Arbeitskraft den Kapitalisten. Sie unterstützt damit die Kriegsvorbereitungen der Militaristen und Konzerne für einen dritten Weltkrieg, während wir jede Arbeitskraft für die Planerfüllung der Frie
densproduktion und damit für den Aufbau des Sozialismus benötigen. Sie hilft mit, Waffen zu produzieren, mit denen wir und sie selbst in den Tod getrieben werden sollen... Diese Zustände müssen sich ändern!“ Sie änderten sich. Die Mauer kam.
Zweihundert Meter Freiheit im Schatten
der Mauer
1963 lernte ich den Wall aus der Nähe kennen. Mein Kindergarten lag genau an der Trennlinie zwischen Sozialismus und Kapitalismus, zwischen Gut und Böse, wie man uns lehrte. Wenn wir vom Spielplatz aus nach Westen schauten, so sahen wir nur große rostige und kreuzweise zusammengeschweißte Stahlträger, dahinter eine weiße Wand, die sehr langsam und scheinbar mit uns wuchs. Zwischen den Stahlungetümen spazierten auf einem kahlen Streifen Soldaten mit großen Hunden. Ab und an kamen sie an den Zaun und sahen uns beim Spielen zu. Ein- oder zweimal im Jahr besuchten sie den Kindergarten ohne Hunde und Waffen, brachten aber dafür ihre Offiziere mit. Entweder überreichten sie uns oder wir ihnen Geschenke, je nachdem, ob die Republik den Tag der Nationalen Volksarmee oder den des Kindes feierte.
Der Kindergarten befand sich in einem nur mit Passierschein zugänglichen Sperrgebiet. In unserer Familie besaß allein meine Mutter so einen Schein. Konnte sie mich nicht abholen, so wurde vorher schriftlich eine Entlassungszeit vereinbart, und ich hatte die zweihundert Meter bis zum Grenzschild allein zurückzulegen. Zweihundert Meter, auf denen ich genau signalisieren konnte, ob die Person, die dort hinter dem rot-weiß-gestreiften Pfahl stand, willkommen war oder nicht. Das erste Mal in meinem Leben erlebte ich so etwas wie Freiheit. Zweihundert Meter, die den Erwachsenen verwehrt waren und im Schatten der Mauer nur mir gehörten.
Brottaschen
flogen ins
Niemandsland
Schließlich die Schulzeit und wieder die große weiße Wand. Vor unserem Schulhoftor stand seit 1961 das Grenzgebietsschild, und mein großer Bruder erzählte mir stolz von den Zeiten, als ihn der Weg zur Penne nur zehn Minuten kostete. Ich dagegen benötigte täglich, um alle Sperrzonen zu umlaufen, vierzig Minuten hin und vierzig Minuten zurück. Zum ersten Mal wurde diese Mauer zu einem Problem. Sie stahl mir pro Schuljahr zweihundert Stunden Freizeit und mindestens fünf Brottaschen. Denn es gehörte zum Ritual an dieser Schule, den Anfängern die mit den Frühstücksstullen gefüllten Umhängetaschen abzunehmen und über die Vormauer ins Niemandsland zu schleudern.
Das war 1966. Wir spielten mit den ersten DDR -Knallplätzchen-Pistolen und durchkämmten den Treptower Park als Partisanen verkleidet nach Faschisten. Unsere Helden waren die „Vier Panzersoldaten“, polnische Serienstars, die einmal in der Woche an der Seite der Roten Armee mit den bösen Deutschen im DDR-Fernsehen aufräumten. Und irgendwie hatte ich lange Zeit das Gefühl, die weiße Wand, die man vom Klassenzimmer aus sah, schützt uns vor diesen finsteren, mordenden Deutschen. Auch wenn die Tanten aus dem Westen, die mit einer Tüte Kaffee meine Oma besuchten und mir das erstes Matchbox schenkten, nicht so aussahen, als könnten sie nur einen Jungen Pionier am Halstuch ziehen. Und doch blieb das Mißtrauen. Schließlich gab es jeden Abend die Bilder aus Vietnam und jenen Sommer im Jahr 1968: Nachdem alle Schüler den obligatorischen Aufsatz „Mein schönstes Ferienerlebnis“ abgegeben hatten, erzählte uns die Lehrerin von der Konterrevolution in Prag, von westdeutschen Agenten, die Tschechen mit der Pistole zwangen, sich vor sowjetische Panzer zu werfen. Und sie berichtete von jenem tapferen Sowjetmenschen, der sich und seinen Panzer den Abhang hinunter stürzte, um das Leben dieser armen Tschechen zu retten.
Die Helden
fuhren nicht
mehr Panzer
Nach 1971 änderte sich vieles: Ulbricht verschwand aus unserem Klassenzimmer, und der bartlose Honecker nahm seinen Platz ein. Wir bekamen eine neue Lehrerin, und zu Hause wurde das strenge Westfernsehverbot aufgehoben. Unsere Helden fuhren nicht mehr Panzer, sondern spielten Gitarre, hießen The Sweets oder The Rubbets. Die Puhdys sangen auf dem Alexanderplatz, und ich mußte nicht mehr alle vier Wochen zum Friseur. Die Besuche aus dem Westen häuften sich, und allmählich zog sich auch durch unsere Klasse ein Riß. Es gab Schüler in Levis und Schüler in Jugendmode-Jeans, solche mit und solche ohne Pelikano. Die Mauer hatte ein anderes Gesicht. Sie war nicht mehr Schutzwall, sondern runtergelassenes Ladenrollo. Der Bruder eines Freundes überquerte sie, um seiner Einberufung zu entgehen. Auch er ist nie wirklich angekommen - fünf Jahre später nahm er sich in West-Berlin das Leben.
Wie lebt man mit so einem Monstrum, das allmählich seine aufgesetzte Legitimation verliert? Mit vierzehn war für uns die Mauer ein Abenteuer. Wir gingen spielerisch Fluchtvarianten durch und fielen unvermittelt in die Wirklichkeit zurück: Mit Freunden durchstreifte ich auf der Suche nach Birnen eine Gartenanlage im Grenzgebiet. Hinter einer Biegung stießen wir plötzlich auf eine Patrouille. Die Grenzer waren völlig überrascht, ihre Kommandos überschlugen sich, und ich lief mit dem halben Haufen davon. Später erzählten uns die, die geblieben sind und nach vier Stunden Verhör nach Hause kamen, haarsträubende Geschichten: Die zwei Soldaten hatten ihre Maschinenpistolen schon entsichert und auf uns angelegt, bevor sie überhaupt begriffen, wer da vor ihnen wegrannte. Und gezittert haben sie, die armen Kerle. Uns blieb der Schreck und eine Aussprache mit dem Schuldirektor.
Republikflucht
oder Mutterzorn
Zwei Jahre später wurde es noch brenzliger. Ich lernte Evi kennen, die eigentlich Eveline hieß, Gedichte schrieb und mindestens einhundert Sommersprossen auf der Nase hatte. Sie wohnte mit ihren Eltern genau an der Mauer. Das heißt ihr Haus war bereits Teil der Mauer, und Besuch durften sie auch nur nach vorheriger polizeilicher Genehmigung empfangen.
Doch ihre Eltern besaßen ein Wochenendhaus, und mit der Aussicht, wenigstens einen Abend nicht irgendwo im Park, sondern in ihrem Zimmer verbringen zu können, nutzte ich deren Abwesenheit auch ohne Erlaubnis der Volkspolizei. Aber irgend etwas lief schief, denn gegen Mitternacht drehte sich plötzlich ein Schlüssel im Schloß, und die Eltern kamen vierundzwanzig Stunden zu früh - zurück. In der Hoffnung, später, wenn sie schliefen, das Haus unbemerkt verlassen zu können, sprang ich auf den Balkon. Sekunden später nur erkannte ich meinen Irrtum. Der Balkon hing bereits im Grenzstreifen, jeder Versuch, sich aus der Hochparterre -Wohnung abzulassen, würde einer Republikflucht gleichkommen. Schließlich entdeckten mich auch noch patrouillierende Grenzer und begannen unangenehme Fragen zu stellen: Was ich da oben zu so später Stunde zu suchen hätte und dergleichen mehr.
Inzwischen saß die Mutter an Evis Bett, wunderte sich über die halbvolle Flasche Rotwein und begann zu einem längeren Vortrag über Alkoholismus anzusetzen. Schließlich blieb mir zitternd nichts anderes übrig, als sie auf ein neues Thema zu lenken, um wenigstens dem Jugendstrafvollzug, der unterm Balkon auf mich lauerte, zu entgehen.
Bis ein Loch
den Blick
freigibt
Zehn Jahre später änderte die Mauer noch einmal ihr Gesicht. Aus dem runtergelassenen Ladenrollo wurde eine Tür, hinter der immer mehr Freunde verschwanden, ein Notausgang, der aus der enger gewordenen Heimat in eine terra incognita führte. Und schließlich der November 1990. Mit zwei Tagen Verspätung und ausgerechnet in Treptow, dort wo Helmut Rieger vor mehr als 28 Jahren mit dem Rücken nach Osten stand und seinen Sozialismus verteidigen wollte, überschreite ich die Grenze. Unter dem Jubel der Wartenden tragen die Soldaten Mauersegment um Mauersegment ab, bis schließlich ein breites Loch den Blick nach Kreuzberg freigibt. Ich gehe mit den anderen, Tränen in den Augen. Aus einem Haus dröhnt die Internationale.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen