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Unsere tägliche Dröhnung

■ Das ARD-Wunschkonzert, ARD und DFF1, Sa. 11.8., um 20.15Uhr

Überall in ihren Wohnzimmern hockten sie, zurückgelehnt in ihren Sesseln und Sofas, die Beine von sich gestreckt, die Händchen gefaltet, die Augen erwartungsvoll auf die Mattscheibe gerichtet. Sie bekamen, was sie wollten, ihre samstagabendliche Ration. Die Stadthalle in Chemnitz war ausverkauft, Dagmar Berghoff im gewagten Kostüm, Max Schautzer im gepflegten weißen Frack, beide strahlend gut aufgelegt. Es begann gleich mit einem Hit. „Dich zu lieben“, sang Roland Kaiser, „mein Verlangen... deine Nähe, deine Wärme... dich berühren...“ Und die Millionen Zuschauer spürten vage Erinnerungen an jene Sommernächte, als die Liebe wirklich war, als sie noch lebendig waren, einem anderen Körper nah. Sie fühlten die schmelzenden Lichter, die einfach dahinplätschernde Melodie... ja, das Leben könnte so schön sein. Und so interessant: Als Gäste aus der Bevölkerung waren Leute eingeladen, die nostalgischen Betätigungen nachgingen. Da waren Spitzenklöpplerinnen aus dem Erzgebirge, einfache Frauen, die von „Arbeit, Ausdauer, Geduld“ sprachen und voller Stolz ein Tuch präsentierten: „Das hat 1.527 Stunden gedauert.“ Das Chemitzer Publikum gab donnernden Applaus. Da waren Sammler alter Motorräder und eine fröhliche Turnerriege aus Postdam, ein Familienzirkus mit reizend aufgeputzten Kindern und fünf Hebammen aus dem nächsten Kreiskrankenhaus. Menschen wie du und ich. Dazwischen natürlich immer wieder anregende und aufmunternde Musikdröhnungen, kleine elektronische Kicks aus dem modernen Show-Betrieb. Und überall im Bundesgebiet und in der DDR tappten unsere Füße den Takt auf dem Fußboden mit. Sanfte Andeutungen möglicher Sinnesfreuden, Sehnsüchte nach einem irgendwann verlorenen Glück. Aber der massenmediale Aufguß tut es auch, nicht wahr. Das Fernsehballett des DFF warf die Beine zu ihrem Medley aus Cabaret, die Frauen trugen knappe Latex-Röckchen und ihre Stöckelschuhe. Doch den meisten Beifall bekamen schließlich die Wildecker Herzbuben, zwei fettleibige Dumpftrottel, die mit ihrem „Herzilein, du mußt net traurig sein“ unsere Herzen gewannen, und uns überwältigten mit dem Song: „Hallo, Frau Nachbarin“. Fünfzehn Millionen Fernsehnachbarn waren gerührt.

Olga O'Groschen

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