: Ganze Kerle gegen einen Schweizer Käse
■ Ein Neuling demonstriert den Bundesliga-Veteranen die hohe Schule des Fußballs Aufsteiger Wattenscheid spielte beim 2:0-Sieg über Werder Bremen Fußball wie aus der Postmoderne
Aus Wattenscheid Ernst Thoman
Wanderer, kommst du nach Wattenscheid, dann kannst du getrost vieles vergessen. Was den Fußball betrifft: Vergiß alles, fang bei Null an. Wo andernorts durch tumbe Musikshows oder andere Einfallslosigkeiten das Vorspiel inszeniert wird, geschieht in Wattenscheid nichts, fast nichts. Bis auf die grellroten Aufkleber an den Ortsschildern. Üblicherweise sollte dort „Stadt Bochum Ortsteil Wattenscheid“ zu lesen stehen.
Doch bei der Anreise stolperten die Augen der noch munteren Schar Bremer Ballfreunde über ein „Hände weg von Wattenscheid“. Keine Fans, an Hools gar nicht zu denken, wollten so die Gäste schrecken. Seit dem Aufstieg im Mai will der Vorort nur mal eben daran erinnern, daß die Zwangseinverleibung zum prolligen Bochum nicht vergessen ist. Ha! Bochum mit seinem grönemeyerschen „Du-und-dein -Doppelpaß-VfL“ in der Bundesliga - sind wir Wattenscheider jetzt auch. Und da stehe kein Bochum vor, nicht mal auf Briefen. Ein echter Wattenscheider kommt nicht aus Bochum -Wattenscheid, „Hände weg“.
Die Bremer haben das nicht ernst genommen. Otto Rehhagel ließ munter mit drei Spitzen spielen. Die etablierten Herren Allofs, Rufer und Neubarth bekamen später mit Marco Bode noch einen vierten Sturmgesellen an die Seite. Nichts half, und sie hätten noch die halbe Nacht unter dem funzeligen Flutlicht probieren können. Die Grün-Weißen hatten schlicht nicht geschnallt, daß in Wattenscheid vieles anders ist. In der 80. Minute hatte der Blitztransfer Klaus Allofs die erste, die einzige Chance für Werder auf dem Kopf. Vertan, alles ein mentales Problem.
Wattenscheid: Um 1909 wurde dieser arabeske Klub geboren, die letzten 20 Jahre, mehr dümpelnd als Schlagzeilen produzierend, hangelte er sich durch die Zweitklassigkeit. Und dies nur, weil deren Mäzen Klaus Steimann, mit 1,7 Milliarden Jahresumsatz Europas größter Damenoberbekleider, in all den Jahren immer sagte: „Ich spinne nicht. Sollen die anderen Millionen für Spieler ausgeben.“ Wattenscheid holte vor einem Jahr nur Amateure - und stieg auf. Uli Hoeneß, Manager des großen FC Bayern, soll getönt haben: „Zwölf Manager werden freiwillig aus dem Fenster springen.“ Der dementierte das heftig, aber die Yellow Press kanzelt den Ligafrischling ab wie Pusteblumen. Von einem „abgenagten Hundeknochen“ war gar zu lesen, von Provinz und Dorfmannschaft, vom Vorort, der sofort abzuschießen sei. Wer ist schon Wattenscheid? Nichtsdestotrotz: Mit vollem Lachen starteten die Wattenscheider in die Bundesliga. Das hielt sich ganze 90 Minuten. Die „Steilmänner“ mit den Freikarten, die Fans in der Südkurve und die Currywurstfraktion in der Gegengeraden, keiner kam zu Bratwurst und Bier. Erst machten ihre Frischlinge im Spielrausch ohne Übersicht zwei Abseitstore, dann machte ein Noboby namens Thorsten Fink mit einem satten Flachschuß aus 20m das 1:0. Ein Kuriosum mehr aus dem Wattenscheider Kabinett. Trainer Hannes Bongartz haderte eine halbe Stunde lang über den „schlimmen Stiefel, den sich der Thorsten da zusammenspielte“. Er lag nur auf der Nase, weil der dürre Rasen vorher gesprengt wurde, und Fink trotzdem seine weichen Noppenschuhe anziehen wollte. Der Trainer stellte ihm nach einer halben Stunde Stollenschuhe an die Außenlinie: „Entweder zieht er die jetzt an, oder ich hol‘ ihn raus.“ Fink schoß flux ein Tor, die Schuhnummer war ausdiskutiert.
Zu Bremen wäre zu berichten, daß „Weltmeister“ Guenter Hermann erst zur zweiten Halbzeit kam. Nach drei Minuten konnte er sich von halblinks ansehen, wie Wattenscheids Mittelstürmer Uwe Tschiskale das Leder volley an die Querlatte setzte. Sieben Minuten vor dem bitteren Werder -Ende spielte jener „Tschis“ mit Souleymane Sane den Doppelpaß gleich dreifach gegen Rune Bratseth und Uli Borowka. Sane, dieser senegalesische Irrwisch, beendete das Treiben mit einem Schlenzer zum 2:0. Bei alledem machte Otto Rehhagel doch noch den Mund auf. Aufrichtig, aber auch sichtlich gefrustet, befand er: „Einige haben sich ein Festival der Fehlpässe geleistet. Die Abwehr war löchrig wie ein Schweizer Käse.“ Bongartz sah einfach nur „ein unheimlich schönes Spiel“, in seinem Team stünden eben ganze Kerle. Wattenscheider eben.
Wattenscheid: Eilenberger - Neuhaus - Moser, Sobiech, Siewert - Emmerling, Hartmann (18. Jankovic), Vossen (80. Kuhn), Fink - Tschiskale, Sane.
Bremen: Reck - Bratseth - Borowka, Otten (46. Hermann) Bockenfeld (67. Bode), Votava, Eilts, Harttgen - Allofs, Rufer, Neubarth.
Zuschauer: 10.000
Tore: 1:0 Fink (38.), 2:0 Sane (84).
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen