: „Total durch den Wind“
■ Silvia Rieger und Carsten Köhrbrück, Meisterin und Meister über die 400 Meter-Hürden-Strecke
PORTRAIT
Düsseldorf (taz) - Hochtalentierter Nachwuchs in der bundesdeutschen Leichtathletik - die Misere ist bekannt ist so gut wie nicht vorhanden. Ausnahmen wie der Zehnkämpfer Michael Kohnle oder die 400-Meter-Hürden -Siegerin bei den Deutschen Meisterschaften in Düsseldorf, Silvia Rieger aus dem ostfriesischen Emden - bestätigen da wirklich nur die Regel. Silvia Rieger kam 1987 mit 16 Jahren zur Junioren-EM nach Birmingham und gewann bei ihrem „ersten richtigen 400-Meter-Hürdenrennen gleich den Titel. 1989 im jugoslawischen Varazdin wiederholte sie dieses Kunststück. Sie hatte sich psychisch bereits so stabilisiert, daß sie dem Favoritendruck standhalten konnte.
Dieses Jahr hatte sie eher als Aufbaujahr in Hinblick auf Barcelona 1992 betrachtet, zumal im Frühjahr ihr Abitur im Vordergrund stand, und sie in der Konzentration auf die Leichtathletik „total durch den Wind“ gewesen war. In Düsseldorf bestritt sie dann auch erst ihr zweites diesjähriges Hürdenrennen. Der DLV drängt stets nach mehr: internationale Sportfeste und Teilnahme an Länderkämpfen. Doch die Athletin und ihr Trainer Hans-Albin Jacob, ein 42jähriger Oberstudienrat, der sich tägliches Training mit Silvia Rieger als „Hobby“ gönnt, haben große Angst vor einem Grundproblem der Leichtathletik: „Eine hoffnungsvolle junge Athletin frühzeitig zu verheizen.“
Deshalb halten sie seit Jahren gegen den übertriebenen, unbedachten Ehrgeiz des Verbandes, der danach trachtet, sich möglichst schnell mit Medaillen zu schmücken, und üben trotz starken Drucks seitens der DLV-Oberen „Verzicht, wo sie nur können“. So nimmt Silvia Rieger, die eine Ausbildung als Bankkauffrau begonnen hat und die mit ihrem hellwachen Herangehen an ihr sportliches Handeln einen starken Eindruck hinterläßt, an keinen Juniorenmeisterschaften teil, obwohl ihr dort der Titel sicher wäre. „Ich bin gerade erst 19 Jahre. Manchmal laufe ich teilweise bis zum Kotzen“, beschreibt sie sehr drastisch ihren Athletinnenalltag in Emden. Sie weiß, daß die Weltklassehürdenläuferinnen wie Sandra Patrick-Farmer (USA) oder die Favoritin für die EM in Split, Petra Krug aus der DDR, erst mit 27 oder 28 Jahren ihr bestes Wettkampfalter erreicht haben. Die Disziplin erfordert viel Erfahrung, kombiniert mit hohem Trainingsaufwand.
Carsten Köhrbrück ging mit einer ganz besonderen Belastung in sein Hürdenrennen. Harald Schmid hatte, da „die Form nicht stimmte“, Anfang der Woche seinen Rücktritt erklärt, so daß der Berliner, Favorit im ersten 400-Meter-Hürdenlauf nach 14jähriger Schmid-Regentschaft, gespannte Erwartungen auf sich gerichtet sah.
Doch der 23jährige Lehramtsstudent (Sport und Biologie) ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er ging verhalten an und rollte das Feld auf der Zielgeraden auf. Mit 48,89 Sekunden ist Carsten Köhnbrück momentan hinter dem Briten Kriss Akabusi (48,59) die Nummer zwei in Europa, womit er sich für die EM in die Mitfavoritenrolle manövriert hat.
Gut bekommen ist dem Berliner der Trainerwechsel vor einem Jahr zu Frank Hensel, der auch Hürdensprinter Dietmar Koszewski betreut. „Meine Grundschnelligkeit habe ich in dieser Zeit enorm verbessert“, sagt Köhnbrück zufrieden, womit er seine 14,08 Sekunden über die kurze Hürdenstrecke meint.
Karl-Wilhelm Götte
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