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Historienschinken, besonders mager

■ „Maler vor Ort . Grenzübergang Oebisfelde“ in der Oberen Galerie am Lützowplatz

Vor Ort stand die Mauer, so daß es, aus westlicher Perspektive genau betrachtet, den Ort Oebisfelde nicht gab. Er ist für den Berliner Lüchow-Dannenberg -Wochenendhausbesitzer noch nicht einmal ein registrierter Name, wenn er am Ortsende von Velpke links abbiegt, um nach Grafhorst zu gelangen. Hinter Grafhorst, das wissen Altberliner Ghettobewohner, pflegte man auf einer schnurgeraden Allee zwischen der schmalen Aller linker und dem antiimperialistischen Schutzwall rechter Hand zu fahren. Eine schöne Strecke.

Die Landschaft ist flach, aber uneben, mitunter hügelig, die Straße nur selten befahren, so daß die wenigen Bewohner der Dörfer bei einem vorüberfahrenden Auto den Kopf in der Erwartung hoben, den Fahrer zu kennen. Am Samstagnachmittag fegen sie den befestigten Gehweg mit dem feinen Besen. Ist er unbefestigt, nehmen sie zum Reinigen des Sandes die grobe, breite Borste.

Ein Stück weiter links, also 12 Kilometer westlich, befindet sich das Hauptquartier des größten bundesdeutschen Automobilherstellers. Doch Velpke und Grafhorst hat die Stadt Wolfsburg bei ihrem Eingemeindungshunger schlichtweg vergessen. Irgend etwas ist hier reglos zu Ende. Etwas, das den Vorbeifahrenden die blödsinnige Fragestellung in die Köpfe bohrt: Wieso wohnt eigentlich überhaupt jemand hier hinter allen Orten?

Eine Frage, die man entweder als arg fundamental gestellt verwerfen oder vor Ort, im Mikrokosmos menschlicher Trägheit, en detail präzisieren muß. Welch erwartungsvolle Freude also angesichts der Einladung der Oberen Lützow -Galerie: Maler vor Ort . Grenzübergang Oebisfelde.

Ein Blick auf die kartographische Sonderausgabe DDR für 8 Mark 80 legt vaterländische Neugeographie klar: Hinter Velpke, auf der Bundesstraße 188, gibt es eine Ortschaft namens Wahrstedt, dann kommt ein Grenzübergang und anschließend auf dem Gebiet der „sowjetisch besetzten Zone“ die Kleinstadt Oebisfelde. Und eben dorthin, zu diesem Interimsgrenzübergang, hatte das Bezirksamt Tiergarten in Zusammenarbeit mit dem Aufzugsunternehmen Otis (West) zwecks Bestandsaufnahme des besonders Historischen verschickt.

Und wie bei Betriebsausflügen mitunter üblich, hatten sich die sieben berlinansässigen MalerInnen für die fotografische Dokumentation des Authentischen vor dem neuen Willkommensschild „Oebisfelde grüßt die Bürger der B (schwarz) R (rot) D (gold)“ ablichten lassen, bevor sie mit ihrer Vor-Ort-Malerei aufs fleißigste anhuben.

An den Ergebnissen dieser Vor-Ort-Malerei stellt sich heraus, daß der Grenzübergang Oebisfelde offensichtlich hoffnungslos unterfrequentiert war. Weit und breit kein Mensch, geschweige denn ein Auto. Die von Ernst Leonhardt in prächtig roter Farbigkeit abgemalten Verkehrsschilder vor dem Grenzübergang mit dem Befehl, die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern nicht zu überschreiten und das Überholen langsamerer PKWs zu unterlassen, mahnen ins Leere. Während ganz Deutschland zusammenrast, schachert, erpreßt, tritt, spuckt, vertickt und bescheißt, sitzen die sieben KünstlerInnen auf dem Abstellgleis zwischen Wolfsburg und Gardelegen und entdecken Landschaft.

Und so erfährt der Bildbetrachter durch die neoneorealistische Perspektive von Louis (das ist der Künstlername von G.N. Busmann, der in seiner Vita angibt, daß er schon mindestens einmal vor Ort gewesen ist in Argentinien, Chile, Peru, Italien, den USA, Spanien, Norwegen, Dänemark, Schweden, Portugal, Österreich, England, Panama, Mexiko, Guatemala, Japan, Hongkong, Thailand, Kanada, Ungarn, Griechenland, Luxemburg, Marokko, Bolivien, im Libanon und in der Schweiz; und so ein Umherschweifen schärft den Blick!) - man erfährt also, daß die Grenzübergangsstelle Oebisfelde aus weißen Baracken zwischen der durchbrochenen weißen Mauer angesiedelt ist, daß auch in dieser Gegend die Deutschlandfahne weht, daß auch dort Bäume wachsen und, im Vordergrund, Gras unkrautet.

So eine Grenzübergangsstelle gibt halt nicht viel her, und so wendet man sich dem Umfeld zu: Hans Beyermann hat es mit dem unteilbaren Himmel - als impressionistischen Grenzfall in bunt; darunter Bäume, Wiesen und Wege - und das Weiße da, der breite weiße Strich? Aha, die Mauer!

Komplettiert wird die Moderne durch den kubistisch inspirierten Maler Falko Hamm, der unter anderem eine Grenzsonne (keine Rechtecke), einen Grenzweg (Recht und keine Rechtecke, ein wunderbarer Entwurf für eine Solaranlage in der Wüste Gobi) und ein Fachwerk (wieder Recht- sowie keine Rechtecke) malt; nebst Herstellung von Messingplastiken wie Grenzer aktiv, schräg, und Grenzer passiv, gerade.

Auf Fachwerk ist besonders die Umfeldmalerin Elisabeth Störmer-Hemmelgarn spezialisiert, eine vor- oder nach(?) -fotorealistische Aquarellistin, die sich - bei meisterlicher Holunderblütenbehandlung - einer Technik der Randunschärfe bedient, um auf erhaltenswerte, leider systembedingt verfallene Bausubstanz aufmerksam zu machen. Zeitzeuge zugenagelt zeigt ein desolates Fachwerkhaus, die alten Fenster mit weißer Weichfaserpappe versperrt, über der kunstvoll gefrästen Eingangstür das alte Hausnummernschild „42“. Schön - wenn es wieder hergerichtet würde, mit den geflochtenen Strohblumenkränzen vor den weißen Gardinen, zum Schluß, wenn alles getan ist.

Wer tut was? Abgesehen von Hans Beyermann mit seinem von Otto Müller koloriertem Käthe-Kollwitz-„Tryptichon“ (Mitte: drei Jugendliche beratschlagen die Situation; links: eine ödipale Triangulation nimmt sich verängstigt in die Arme; rechts: ein Unfallopfer mit Kopfverband und rotem Knie wird von einem für Beyermann typisch langgesichtigen - ja, ist es überhaupt ein Sanitäter? - versorgt) hat offensichtlich im Umkreis von Velpke, Grafhorst, Groß- und Klein-Twülpstedt sowie Oebisfelde kein Schwein vor Ort einen ehemaligen Zonenrandmenschen gesichtet.

Doch halt, nein, stimmt nicht: Da ist noch der Maler Kornelius Wilkens, der mehrmaligen Grepo-Kontakt hatte. Das sind die Leute in diesen grüngrauen Uniformen, denen mit dem Sturm der Geschichte ihre Uniformmützen vom Kopf geweht werden. Menschliche Schicksale, ratlos erstaunt über die Umstrukturierung des deutsch-deutschen Arbeitsmarktes. Ein erkenntnistheoretischer, wo nicht gar künstlerischer Lichtblick in dieser Volkshochschulfreigänger -Veranstaltung.

Noch jemanden vergessen? Ach ja! 1986-1987, Arbeit an Wandbildern im Goldenen Saal im Rathaus Schöneberg, Berlin; 1987-1988 Arbeit am Tryptichon Die Jahrhundertfeiern: Matthias Koeppel, der CDU-Senatshofmaler und Mitbegründer der Neue-Prächtigkeit-Schule. Jetzt an der Grenze vor Ort zu Oebisfelde. Und keine Idee, wie Wirklichkeit sympathisch zu verschrägen sein könnte. Ein Loch in der Mauer. Das war's schon. Aber hallo! Den Kopf nicht hängen lassen. Die nächste Wahl kommt bestimmt.

Bleibt zusammenzufassen:

1. Der einzig kompetente Vor-Ort-Berichterstatter war der ARD-Korrespondent Hans Dieter Luegt, postiert vor dem stets geschlossenen (rotes Licht, heruntergelassene Schran ken) Sicherheitsvorcheckbereich des Bundeskanzleramtes. Nicht so sehr, weil man sich vorstellen konnte - wenn man so möchte -, wie dieser Mann in der Unterhose aussieht, als vielmehr wegen der Atemlosigkeit der Nullinformation.

2. Gegen solche Übermacht des 9.-November-und-danach-Pathos der Vor-Ort-Medien (zum Begriff des Vor-Ort-Mediums mute man sich, dosiert, eine Metropolensendung wie die der Berliner Abendschau zu) ist schlecht anmalen.

3. Die Freiheit, und also auch die künstlerische, mag sich ruhig und subventioniert auch am Grenzübergang Oebisfelde manifestieren.

4. Zur fachkompetenten Beurteilung der Bedeutung des Hauses am Lützowplatz für die moderne Kunst vgl. die taz vom 19.7.90.

5. Wenn - siehe oben - außer dem Üblichen anscheinend nichts zu sehen und zu malen ist, das Außergewöhnliche, wahnsinnig Geschichtliche aber Thema, dann muß halt mit Etiketten geschwindelt werden; was die massenmedial ausgekochte Mauer nicht mehr hergibt - die schwerstmetaphorischen Bildtitel werden's schon richten: Dachschaden; Gewitterwolken im Osten; Der neue Weg; Rettungsaktion 40 Jahre zu spät; Datum halt; Landschaft - überdüngt und, der schönste, Was war, was tun, was wird.

6. Es ist besonders erhebend, den Galerieleiter Paul Corazolla, zu Zeiten der marktwirtschaftlich begründeten Abschaffung staatlich subventionierter Ostkunst, mit dem kreisrund roten Sticker „verkauft“ durch die bezirksamtlich finanzierten Vernissagenräume eilen zu sehen.

7. Eine Anfrage der taz-Lokalre dakteurinnen: „Könntest du nicht eine Ausstellung im Haus am Lützowplatz ...?“ sollte fortan mit Rekurs auf Punkt 5 mit einem strikten Nein beantwortet werden. Dazu geschehen zu viele andere Kulturereignisse in dieser unserer Stadt ...

11b. Dem Sponsor der Veranstaltung, der Firma Otis, sei der Befund mitgeteilt, daß der Vernissagenwein wieder einmal unter aller Kanone war (vgl. taz vom 15.8.89: „Blau, Rot Grün“ oder Gelb?) Etwas mehr Sorgfalt bitte beim Finish! Kunst will genossen sein - oder war's begossen.

Peter Blie

Maler vor Ort . Grenzübergang Oebisfelde. Obere Galerie, Lützowplatz 9, Berlin 30. Vom 11. bis 23. August täglich außer Montag von 11 bis 18 Uhr.

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