Abschied von der Kuhschwanzpolitik

■ Trotz des Vorteils großer Anbauflächen zeichnet sich eine Krise der LPGs ab

Severin hat alles, was zu einem mecklenburgischen Dorf gehört: eine kopfsteingepflasterte, sandige Dorfstraße, eine feldsteingemauerte Kirche am Friedhof, knorrige Eichen, ein Schloß mit dunklem Park, Federvieh, Katzen und Hunde auf den Höfen, Vögel, Enten und Frösche am Dorfteich. Vor dem barackenähnlichen Dorfkonsum erinnern zwei Findlinge weniger an die Eiszeit als an die „LPG Typ I“, 1952, und an den 18.März 1960, als Severin zum „volksgenossenschaftlichen Dorf“ avancierte.

256 Menschen leben in Severin, von der Bezirksstadt Schwerin 35 Kilometer und von der Kreisstadt Parchim 13 Kilometer entfernt. Arbeit geben die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) „Tierpropduktion“ und „Pflanzenproduktion“ und der Severiner Betriebsteil des Landestechnischen Anlagenbau Schwerin.

Viele Sorgen drücken die Severiner Bürger, von der Wasserversorgung bis zum Zustand der Dorfstraße. Die Gemeindekasse ist leer. Die „Raststätte“ an der Fernverkehrsstraße, die schon manches Dorffest erlebte, ist bereits geschlossen. Gegenüber, gleich neben dem Dorfteich, soll eine Tankstelle entstehen. Auch über einen Reifendienst und ein Gartenzentrum wird nachgedacht. So könnte sich Severin bald zu einem Dienstleistungsbetrieb für Durchreisende auswachsen. Die Zukunft des Dorfes steht und fällt aber mit der Landwirtschaft.

In der Schrankwand des Vorsitzenden der LPG Tierproduktion Domsühl verstaubt die Standardbibliothek eines mittleren DDR -Leiters, der „Abriß“ einer nun abgerissenen Geschichte der SED neben verschiedenen Leitfäden durch die Planwirtschaft und dem dreibändigen Lenin. Auf seinem Schreibtisch stapelt sich die Geschäftspost neben Broschüren von den neuen Beratern und Partnern. Vor zwei Jahren mußte die Domsühler LPG die heruntergekommene Nachbargenossenschaft übernehmen. Zur Kooperative gehören vier „Tierproduktionen“ und eine „Pflanze“. „Sie hat mit diesem Ausmaß keine Chance“, erklärt Hans Knießner. Verkleinern, damit alles überschaubar wird, lautet die Formel des LPG-Vorsitzenden; allein, die neue Struktur ist noch unklar. „Alle Register“ will Hans Knießner für seine LPG ziehen, um „rentabel zu bleiben“. Im Gegensatz zu vielen anderen Genossenschaften haben die Domsühler noch etwas Geld. Kein Grund zur Beruhigung. Von den 145 Mitgliedern muß die Hälfte gehen, in den Vorruhestand, in die Kurzarbeit, aber auch in die Arbeitslosigkeit. „Entweder gemeinsam untergehen oder soviel wie möglich fürs Überleben tun“, so habe die Alternative auf der Vollversammlung gestanden. „Es will keiner mehr Milch, Kartoffeln, Getreide. Wir kommen nicht umhin, uns zu verkleinern, aber es soll im guten Einvernehmen mit den Betroffenen geschehen.“

Die Domsühler Bauern wollen mit weniger Tieren eine höhere Qualität ihrer Produkte erreichen. Von der „sozialistischen Kuhschwanzpolitik“ haben sie sich längst verabschiedet. Auf neue Wege gar wagen sich die Severiner. Sie werden Puten züchten und verkaufen. So könnten sie, rechnen sich die Severiner Bauern aus, nicht nur ihre Arbeitsplätze erhalten, sondern einige neue schaffen. Ihre Weideflächen braucht die LPG dann nicht mehr. Etwa die Hälfte des Weidelandes und der Anbauflächen der Kooperative wird stillgelegt. Was darauf passieren soll, weiß keiner. Der Staat zahlt der LPG eine Stillegungsprämie, wenn der Boden in den letzten drei Jahren bewirtschaftat wurde. „Wer soll die Böden aufforsten“, fragt Hermann Freude, Vorsitzender der LPG Pflanzenproduktion Domsühl. Bei ihm bleiben in diesem Jahr zum Beispiel neun Hektar Tabak stehen. Das Trocknen wird mehr kosten, als der Verkauf einbringt. Schönen Gruß von Philip Morris. Für die Getreidernte erhielt er bislang nur 55 Prozent des ohnehin schon um die Hälfte gesunkenen Preises, weil die Getreidewirtschaft nicht zahlen kann. So geht es der „Pflanze“ nicht besser als der Tierproduktion, die ihre Schweine mit Milch mästet und noch auf das Juli-Geld aus dem bankrotten Milchwerk wartet. „Drüben wird die Landwirtschaft auch subventioniert“, argumentiert Hermann Freude. „Wir versuchen, einige feste Absatzmärkte zu schaffen. Stärkeindustrie, Pflanzgut- und Saatgutproduktion. Da haben wir Erfahrungen und Kapazitäten. Unser Vorteil gegenüber dem Westen sind die großen Anbauflächen. Der Nachteil ist, daß die Leute nicht mehr gewohnt sind, sie wie ihr Eigentum zu behandeln.“ Den Weg zurück in die Einzelbauernwirtschaft, „wie Kiechle ihn sich wünscht“, kann Hermann Freude sich nur als Ausnahme vorstellen. Fünf Prozent der DDR-Bauern sollen nach einer Erhebung des BRD-Landwirtschaftsministers bereit sein, Einzelhöfe zu übernehmen. Doch „Einzelbauernhöfe gibt es nicht mehr, da ist doch in den vierzig Jahren etwas ganz anderes gewachsen“, meint der LPG-Vorsitzende, „aus unserer LPG will bisher nur ein Bauer selbständig werden.“ Der Hermann Freude hatte den „sozialistischen Frühling“ in der Landwirtschaft als 25jähriger miterlebt. „Die nach mir in die LPG kamen, haben doch das Leben als Selbständige nie erlebt.“ Nicht in Einzelhöfe sollte die Kooperative deshlab zerfallen, sondern etwa in die Struktur, die vor der unseligen Trennung von „Tierproduktion“ und „Pflanzenproduktion“ bestanden hat, meinen viele Severiner und Domsühler Bauern.

Hermann Freude hofft auf Chancengleichheit aller Betriebsformen, wird aber „den Eindruck nicht los, daß hier Politik gegen die Genossenschaften betrieben wird“. Er spricht die schleppende Kreditvergabe an, die niedrigen Verkaufserlöse, die Hindernisse beim Ost-Export landwirtschaftlicher Produkte, und schließlich sind im Dorfkonsum auch schon Milch und Fleisch aus dem Westen angeboten worden.

Noch hat Severin alles, was zu einem mecklenburgischen Dorf gehört. Ob es auch eine Zukunft hat, wird nicht in Severin entschieden. Die Dorfleute klammern sich an Strohhalme, die sich ihnen eher zufällig darbieten. Damit haben sie immerhin mehr in den Händen als ein Nachbardorf, dessen LPG -Vorsitzender noch immer auf „Rahmenbedingungen“ wartet.

Detlef Krell