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Der Klassenkampf fiel diesmal aus

■ FC St.Pauli - Bayern München 0:0 / Am Millerntor ist eine Spur Gesetztheit eingekehrt

Vom Millerntor Jan Feddersen

Ein Mann wie Helmut Schulte, Trainer des FC St.Pauli, ist fast ein echtes Idol. Er bringt alles mit, was man braucht, um geliebt zu werden, um einen Stammplatz in den Herzen der Menschen zu erobern. Warum das so ist, belegte die Pressekonferenz nach dem Spiel des notorischen Abstiegskandidaten FC St.Pauli gegen die Millionentruppe vom FC Bayern München. Denn während Jupp Heynckes, rheinischer Übungsleiter der teuren Profis, von einem „interessanten Spiel“ floskelte, bei dem seine Mannschaft die „größeren Spielanteile“ gehabt und deswegen „Einbahnstraßenfußball“ exekutiert habe, leider aber „nicht effizient genug“ aufgetreten und deswegen, ja eben, kein Siegtor gefallen sei, hielt sich Schulte gar nicht lange mit Ärmelschonerprosa im Stile seines Kollegen auf, sondern gab den Entertainer mit Herz.

Schon vor der Partie gab er öffentlich zu verstehen, daß „alles andere als eine Niederlage“ einem Wunder gleichkomme. Aber, schlußfolgerte der 32jährige Schnauzbartträger aufgrund inzwischen zweieinhalbjähriger Erfahrung, „für Wunder sind wir immer gut“. Solche Sprüche liebt das Publikum, schätzt die Presse und beleben das Geschäft. Und der Tatsache, daß die Millerntorgang des vorgezogenen Spiels wegen nun erstmals in ihrer Vereinsgeschichte Bundesligatabellenführer geworden ist, kommentierte er gleichfalls locker, witzig und bündig: „Wenn's nach mir ginge, könnte die Saison jetzt vorbei sein.“

Natürlich wußten fast alle der 22.000 Zuschauer, daß ihr Verein endlich einmal einen Traumstart hingelegt hat. Niemand hatte schließlich mit einem Sieg in West-Berlin gerechnet, nur wenige mit einem Punkt gegen die Meister aus München. Nun sind es bereits 3:1-Punkte auf dem Konto der Hamburger, bleiben also nur noch 28 zu holen, ehe der Abstieg vermieden sein dürfte.

Doch ganz so einfach liegen die Dinge nicht mehr auf St.Pauli. Nicht allein, daß die Gerüchte um eine Vereinsbeteiligung an einem Mehrzweckhallenprojekt (Kosten: 400 Mio. Mark) wieder aufgekommen sind; und nicht allein die Scherereien um den Gehaltspoker von Ivo Knoflicek, dem tschechoslowakischen Paradestürmer der Paulianer, haben die Anhängerschaft eine Spur Distanz nehmen lassen. Viele scheinen anspruchsvoller geworden zu sein.

Vor einem Jahr wäre noch undenkbar gewesen, das südfriesische Laufwunder Klaus Ottens mit einzelnen Pfiffen zu bedenken, nur weil er ein bißchen behäbiger als sonst über den Platz stakste. War es denn nicht schon vor dem Spiel bekannt, daß der blonde Stürmer nur über ein beschränktes Repertoire technischer Kabinettstückchen verfügt? Auch fiel der Anfeuerungsbeifall während des Spiels dezenter aus als noch vor Monaten. Selbst die dritte Halbzeit, die noch vor kurzem in den stadionnahen Kneipen und in der Vereinskneipe vehement bestritten wurde, fiel nach dem ersten Heimspiel würdiger, sagen wir: gesetzter aus.

Es scheint, als ob die Zuschauer am Ende dieser Saison etwas mehr erwarten als die übliche Leistung, nämlich den Gang in die Zweite Bundesliga vermieden zu haben. Und die Fans haben völlig recht: Mit der Spielleistung, die die Hamburger gegen die Bayern zeigten, darf vom Abstieg keine Rede mehr sein. Neben Andre Golke („Kleines dickes Golle“) und Ivo Knoflicek findet sich im Kader des FC St.Pauli seit einigen Wochen ein junger Mann namens Dirk Dammann, der gegen die Bajuwaren technische Klasse und Spielwitz zeigte, daß es nur so erstaunte. 50.000 Mark hat der 23jährige gekostet, eingekauft im Juni vom VfL Stade, Amateurverein am Rande Hamburgs. Ihn zu halten gelang weder Hans Pflügler noch Stefan Reuter, von Jürgen Kohler ganz zu schweigen, der von Ivo Knoflicek zur Randfigur degradiert wurde. Im übrigen hatten beide Trainer recht: Das Spiel war interessant, weil auch der FC St.Pauli - trotz des Fehlens solch wichtiger Leute wie Knäbel, Duve, Zander - gelegentlich Torchancen herausspielte; richtig ist auch, daß der High-Tech-Maschine FC Bayern München die nötige Stürmersoftware fehlt - Laudrup und Effenberg beförderten den Ball tatsächlich immer genau dorthin, wo es alle erwartet hatten. Und auch Schulte, die grantelnde Millerntorausgabe des Wieners Ernst Happels, liegt goldrichtig: „Für Wunder sind wir immer gut. Dauert allerdings ein bißchen länger.“ Der im letzten Jahr noch inszenierte „Klassenkampf“ beider Teams fiel im übrigen aus. Jupp Heynckes wurde zwar wieder mit Groschen und Pfennigen beworfen, doch die Vereinsspitze mochte mit solchen Brachialvokabeln aus alter Zeit nichts zu tun haben und überreichte allen Weltmeistern Blumensträuße. Daß die Bayern Pfiffe einstecken mußten, braucht sie nicht zu kümmern: Am Millerntor werden alle ausgebuht, die nicht zum Millerntor gehören oder nicht Ausländer sind.

ST. PAULI: Thomforde - Kocian - Trulsen, Schlindwein - Olck, Dammann, Gronau, Ottens, Dahms - Knoflicek (79. Manzi), Golke

MÜNCHEN: Aumann - Augenthaler - Grahammer, Kohler, Pflügler

-Reuter, Dorfner, Effenberg, Bender (65. Wohlfarth) Mihajlovic, Laudrup (72. McInally)

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