: Tauziehen um Tarife im öffentlichen Dienst
■ Weitreichende Folgen des West-Ost-Gehaltsgefälles für Berliner Gesundheitswesen / ÖTV-Kritik an Innensenator Pätzold
Berlin. Vierhundert D-Mark mehr oder eine Anhebung des Einkommens um mindestens 30 Prozent fordern die DDR -Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst, die heute vormittag in Ost-Berlin fortgesetzt werden. Unterstützt werden sie von ihren westlichen Schwestergewerkschaften, allen voran die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) und die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV). Die Arbeitgeberseite vertreten Klaus Reichenbach (CDU), Minister im Amt des Ministerpräsidenten, und Abgesandte der bundesdeutschen Arbeitgeberverbände. Sollte die dritte Runde ergebnislos verlaufen, haben die Gewerkschaften für nächste Woche Kampfmaßnahmen angekündigt. In Berlin zeigt sich das West-Ost-Gehaltsgefälle im öffentlichen Dienst besonders deutlich am Beispiel Gesundheitswesen. Vorschub leistet dabei der auch in West-Berlin herrschende Pflegenotstand. Er zwingt die Westberliner Kliniken dazu, entgegen des Appells von Gesundheitssenatorin Stahmer (SPD) Stellen an DDR -Schwestern und -Pfleger zu vergeben. Wie der taz jetzt bekannt wurde, hat allein das Universitätsklinikum Rudolf Virchow (UKRV) in diesem Jahr mindestens 25 Bewerber aus dem Pflegebereich eingestellt, die ihren Wohnsitz noch in Ost -Berlin haben. Rein rechtlich ist das durchaus möglich, da die geltende Rechtsordnung die Arbeitsaufnahme von Deutschen mit Wohnsitz in der DDR bzw. Ost-Berlin in West-Berlin nicht verbietet. Der finanzielle Anreiz tut ein übriges, um den Sog von Ost nach West zu unterstützen: Nach Angaben der DAG erhält eine Krankenschwester im Osten lediglich ein Drittel des Gehalts ihrer West-Kollegin, daran hat auch der seit März gewährte Bruttozuschlag für DDR-Pflegekräfte in Höhe von 300 DM nichts geändert. Wieviele Schwestern deshalb ihren Arbeitsplatz nach Westen verlegt haben, können die Gewerkschaften nicht sagen. Konrad Krüger von der Ostberliner Gewerkschaft Gesundheit: „In jedem Fall sind es die qualifizierten Leute, die gehen“ - und mit Kußhand empfangen werden. „Den Westberliner Kliniken ist das Hemd eben auch näher als der Rock“, heißt es dazu im Personalrat des UKRV. Die Folge: Nach Angabe von Prof. Mau fehlten bereits im Juli allein in der Charite 350 Schwestern, das sind rund 20 Prozent des Mindestbedarfs. Offensichtlich arbeiten außerdem viele Schwestern am Wochenende oder in der 2. und 3. Schicht in West-Berlin. Ergebnis: Der Ostberliner Pflegenotstand, so die AL-gesundheitspolitische Sprecherin Wirths, „wird noch einen Zahn schärfer“.
Eine weitere Zahnlücke fand gestern die ÖTV bei den „Abspeckungsvorschlägen“ von Innensenator Pätzold im Hinblick auf die Beschäftigten in den Ostberliner Verwaltungen. Eine solche Kahlschlagpolitik sei unnötig, Fachpersonal mit Erfahrung würde besonders auch in den neu zu bildenden Landesverwaltungen benötigt. Pätzold jedoch bleibt dabei: Das künftige Land Berlin könne einfach nicht die gesamte Konkursmasse der DDR-Regierung übernehmen. Deshalb müßten im Einigungsvertrag Regelungen geschaffen werden, die die sozialen Belange aller Menschen stärker als bisher berücksichtigen. Im übrigen habe das zwischen ÖTV und DDR-Innenminister Diestel ausgehandelte Rationalisierungsschutzabkommen keine Gültigkeit, da es mit dem Finanzminister nicht abgesprochen worden sei. In keinem Fall werde es unter Pätzold diesen Schutz für Mitarbeiter geben, die bis zum 9.11.89 „willfährig dem Unrechtsregime dienten“.
maz
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