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Der Goldfisch und die Mandarine

■ Die Eliteschule „Ecole Normale Superieur“ in der Pariser Rue d'Ulm

Aus Paris Alexander Smoltczyk

Ernest heißt der Goldfisch. Keiner weiß warum, aber es fragt auch niemand danach, denn seit Menschengedenken hören alle Goldfische im Springbrunnen der erlauchten „Ecole Normale Superieure“ zu Paris auf den Namen Ernest. Und daran wird sich auch nichts ändern, weil sich noch nie etwas geändert hat in der Rue d'Ulm Nr.45. Der französische Geist, der hier seine Priester heranbildet, ist ewig und zeitlos.

Vom Sims des Innenhofs blicken die Götter durch die Linden. Montaigne, Voltaire, Lavoisier und die anderen. Ein paar Köpfe fehlen, die haben blasphemische Scholaren in einer Mainacht '68 frech heruntergerissen. Damals war aus der Eliteschule der Republik über Nacht ein Thinktank der Revolution geworden, das Seminar des strukturalistischen Marxisten Louis Althusser in der Rue d'Ulm zur Sprechstunde des Weltgeistes. Wie lang das schon wieder her ist... Althusser sitzt seit Jahr und Tag in der psychiatrischen Klinik von Sainte-Anne, seine Schüler hat der Zeitgeist in alle Winde zerstreut, und die Nachgeborenen sitzen arg- und harmlos paukend um die Fontäne, unter der Ernest weise seine Runden zieht wie eh und je.

Alle waren sie „Normaliens“: Bergson, Pompidou, Sartre, Derrida, de Beauvoir, Aron, Merleau-Ponty, Giraudoux. Alle haben sie sich zwei Jahre lang - wie heute immer noch - in teuren Vorbereitungskursen, den sogenannten Khagnes, auf den Zulassungswettbewerb vorbereitet, haben in den zellenartigen Räumen rund um den Innenhof bis zu 16 Stunden am Tag gepaukt, um nach drei Jahren die „Agregation“ zu bekommen den Ritterschlag des französischen Erziehungssystems. Manch einer ruht, wie Jean Jaures, sogar im Pantheon, dem Walhalla der französischen Republik, gleich am Ende der Rue d'Ulm (eine Tafel am Schuleingang weist den Weg). Die großen Namen werden in Ehren gehalten. Manche etwas mehr, wie die kriegsfreiwilligen Absolventen, die auf dem Feld der Ehre verreckten, manche auch etwas weniger, wie jener große Archäologe des Wissens, der elendiglich an Aids zugrundeging: die Direktorin der „Ecole normale“ weigerte sich im letzten Jahr, einen Saal nach Michel Foucault zu bennenen. War ja schließlich andersherum, der Mann... Und damit natürlich kein Vorbild für die republikanische Geisteselite. Das war schon immer so, da fragt auch keiner groß.

Auch wenn der Philosph Derrida noch jeden Mittwoch um viertel nach fünf sein Seminar abhält - die Zeiten sind vorbei, an denen die Pariser Geisteswelt auf ihrer Suche nach neuen intellektuellen Moden neugierig an der Pforte der Rue d'Ulm lauschte.

Meisterdenker gibt es hier nicht mehr. Zwar gab es da jenen Jocelyn im letzten Sommer, der schon im zarten Alter die landesweiten Physik-, Mathematik- und Lateinwettbewerbe gewonnen hatte, im ersten Semester eigene Seminare gab und jetzt seinen Wehrdienst im Kabinett des Verteidigungsministers ableistet. Oder jenen Clan royalistischer Dandies, die sich ihre Zeit in den öden Gängen der Rue d'Ulm mit Scherzen a la „Clockwork Orange“ vertreiben. Doch ansonsten sind die Normaliens sehr normal geworden. „Die Studenten suchen nicht mehr nach Wahrheit, sondern nach Wissen“, wie eine Normalienne weise meint. Wissen um des Wissens willen. Nicht, um etwas damit anzufangen, sondern um den „Esprit“, in handliche Lektionen verpackt, in sich aufzunehmen, zu bewahren und weiterzutragen an die Orte, wo die französische Nation ihrem Selbstverständnis nach entsteht: die Schulen. Den Normaliens stehen die begehrtesten Posten im nationalen Erziehungssystem zu - woraus nicht geschlossen werden darf, daß auch nur eine Stunde Pädagogik auf ihrem Lehrplan zu finden ist: in Frankreich bedarf das Wissen, wenn es nur mit nötiger Brillanz formuliert wird, keiner pädagogischen Krücken. Und so lernt man denn anderes; etwa die hohe Kunst des „Dissertierens“. Jeder Aspekt der Welt kann - so die Maxime - in Einleitung, drei Teilen und Konklusion erschöpfend abgehandelt werden, sofern wie in der Architektur die ewigen Regeln der Baukunst eingehalten würden. Eine Stunde lang freies Dissertieren über ein beliebiges Thema - darin besteht die mündliche Prüfung der „Agregation“. Weil Bücher in der Prüfung verboten sind, müssen die Normaliens genau wie einst die chinesischen Mandarine einen Großteil ihre Studiums damit verbringen, ganze Passagen der Klassiker auswendigzulernen, um ihre Dissertation mit den gewünschten Zitaten stützen zu können. Die besondere Güte eines Bewohners der Rue d'Ulm zeigt sich in der Eleganz, mit der er seinen Zitatenschatz handzuhaben weiß und wie er jedes x-beliebige Thema mit einer wissenden, aber stets konformistischen Skepsis erörtert. Das ist dann „Brillanz“ - glitzernd, unbegreiflich, aber beeindruckend und sprühend in alle Richtungen. So wie, wie... genau: wie jene Fontäne im Innenhof der Rue d'Ulm, unter der ein Peripathetiker unbeeindruckt flossenschwingend seine Kreise zieht: Ernest, der Goldfisch.

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