: Momper-Philippika gegen Kohl und Kollegen
■ Regierender greift Kohl und Länderchefs scharf an / Wahltaktik und Länderegoismen verderben die Einheit / Berlinern „droht“ im Winter für zwei Monate eine regierungslose Zeit / Regiert dann der Senat, ein Provisorium, oder bleibt alles beim alten?
Berlin. Der Regierende Bürgermeister Momper hat gestern auf einer Pressekonferenz im Rathaus Schöneberg schweres Geschütz gegen seine westdeutschen Kollegen (auch aus der SPD) und gegen Kanzler Kohl aufgefahren. Der historische Prozeß zur deutschen Einheit drohe zu einem Trauerspiel zu werden, weil Wahltaktik und Länderegoismen den Vereinigungsprozeß zunehmend belasten würden.
Besonders erzürnt ist Momper über die Absicht der großen westdeutschen Länder, jetzt ihre Stellung im Bundesrat stimmenmäßig verstärken zu wollen. Gerade an diesem für den Föderalismus zentralen Punkt dürfe das Grundgesetz nicht ohne Mitwirkung der entstehenden neuen Länder verändert werden. In den großen Ländern und offenbar auch bei der Bundesregierung werde mit dem Gedanken gespielt, den Einigungsvertrag platzen zu lassen. Ein solches Verfahren wäre kein Beitritt, sondern wirklich der Anschluß. Dabei würden Interessen der Bürger der bisherigen DDR wie bei der Finanzausstattung der neuen Länder, der Verteilung des Volksvermögens zugunsten von Ländern und Kommunen und der Interessen der Frauen beim Paragraphen 218 mißachtet.
Kohl habe sich seit der Währungsunion in der DDR nicht mehr blicken lassen. Kanzlerkundgebungen in Dresden oder etwa bei den Bauern in Mecklenburg, wie sie gerade angesichts der jetzigen krisenhaften Zuspitzung angebracht gewesen wären, seien ausgeblieben. Dem Zusammenbruch in der Landwirtschaft drohe jetzt ein Zusammenbruch in der Industrie zu folgen. „Der Osten Deutschlands droht zu einem Land von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern zu werden, deren Konsumgüter im Westen produziert werden.“ In der Hauptstadtfrage werde mit Tricks und Finessen versucht, eine einseitige Lösung zugunsten Bonns festzuschreiben, erklärte Momper weiter. In dieser und anderen Fragen gerate Berlin mehr und mehr „in die Situation einer Interessenidentität mit den Bürgern der DDR gegen die mächtigen Interessen im deutschen Westen“.
Inzwischen hat der mögliche Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zum 14. Oktober in Berlin die Frage aufgeworfen, wer danach bis zu einer Gesamtberliner Wahl die Stadt regieren wird. Da bei Gesamtberliner Wahlen am 2. Dezember mit der Bildung einer handlungsfähigen Regierung erst Ende Dezember oder Anfang Januar zu rechnen ist, entsteht zwischen Beitritt und neuer Regierung ein Loch von zweieinhalb Monaten. Bei der CDU wird die Auffassung vertreten, daß mit dem Beitritt automatisch der Westberliner Senat für Gesamt-Berlin zuständig wäre. Der SPD -Rechtsexperte Ehrhart Körting kommt dagegen in einem gestern veröffentlichten Kurzgutachten zu dem Ergebnis, daß verfassungsrechtlich sowohl Abgeordnetenhaus und Stadtverordnetenversammlung als auch Senat und Magistrat für eine Übergangszeit nebeneinander bestehen bleiben können. Denkbar wäre aber auch, daß Senat und Magistrat eine gemeinsame provisorische Regierung bilden, meinte Körting. Der Regierende Bürgermeister sieht keinen Grund, bei einem vorgezogenen Beitritt der DDR ohne gleichzeitige Wahlen die Stadtregierung und das Parlament in Ost-Berlin aufzulösen. Beide Stadtregierungen seien voll funktionsfähig und arbeiteten gut zusammen.
dpa/ger
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