Zerfasert differenziert symptomatisch

■ Das Compilation-Doppelalbum „Geräusche für die 90er“

Zu Beginn eines jeden Jahrzehnts wird immer fröhlich drauf los spekuliert, was uns die nächste Dekade wohl bringen mag, musikalisch. Dies ist der erste Jahrzehntwechsel im Zeitalter der Postmoderne, die für die populäre Musik Ende der 70er mit Punk, spätestens Anfang der 80er mit der New Wave seinen Anfang nahm. Punk war der absolute Endpunkt. Danach konnte nichts mehr kommen, jedenfalls keine ein ganzes Jahrzehnt beherrschende Stilrichtung. Punk kehrte aufgrund der Ausreizung der musikalischen Formen zum Ausgangspunkt zurück, und hatte damit das Innovationsproblem der Popmusik offengelegt. Im selben Atemzug beseitigte Punk jede Ideologie, indem er die Entwertung aller Werte zum letztendlich übrigbleibenden Wert erklärte, was nur die logische Konsequenz aus der Tradition der rebellischen Attitüde der Popgeschichte war. Auf diesem Boden konnte alles und nichts entstehen, und das tat es dann auch. Die technischen Innovationen wurden in die nun herrschende Stilvielfalt integriert und sorgten nur in wenigen Bereichen um eine Erweiterung der schon bekannten Formen.

Damals, Anfang der 80er, stand Alfred Hilsberg, der bundeseigene Guru des Underground, bereit, unter anderem mit seinem ZickZack-Label den deutschen Aufbruch in die neue Freiheit zu verarbeiten. Es entstand der Sampler Geräusche für die 80er, der einen Überblick über die damalige deutsche Punkszene bot und so wesentlich geschlossener war, als es nun das Nachfolgewerk überhaupt sein kann. Aus 300 Demo-Tapes und 50 LPs stellte Hilsberg Geräusche für die 90er zusammen, und die Platte ist zerfasert und differenziert aus den oben beschriebenen Gründen und damit nur symptomatisch.

Zwar hat sich Hilsberg bemüht, dem Doppelalbum Struktur zu geben, aber mehr als eine grobe Ordnung war einfach nicht möglich. Seite eins präsentiert eher harte, schwere, teilweise experimentelle Gitarrenmusik (unter anderem von den Berlinern Mutter und Die Haut und den neuen Hamburger Aufsteigern Kolossale Jugend), während auf der zweiten, der Danceseite eher das gute, altbewährte aus diesem Bereich auftaucht, wie schon allein an den Namen unschwer zu erkennen ist: unter anderem KMFDM, Tommi Stumpff und Westbam. Seite drei kehrt zur Gitarre zurück und bietet ebenfalls etablierten, allerdings sehr unterschiedlichen Stoff, vom dreisten 70er-Kopistentum der Hamburger Daisy Chain über die Neil Young-Verehrer Speedniggs aus Detmold bis zu den Duisburger Flowerpornoes, die mit ihrem Beitrag Hängen Runter wieder einmal beweisen, daß deutsche Texte und Gitarrenpop nicht notwendigerweise in Peinlichkeit enden müssen.

Die interessanteste Seite ist ohne Zweifel die vierte, auf der eher unbekannte, meist nur Kultstatus besitzende Bands versammelt sind, von denen die meisten noch keine Platten gemacht haben, und die stellvertretend nahezu die gesamte Bandbreite bundesdeutschen Independent-Tuns komprimiert (netter Gag am Rande: CD-Käufer müssen leider auf diese vierte Plattenseite verzichten, hier läuft das Spiel ausnahmsweise mal umgekehrt). Das reicht von einem cool -jazzigen Instrumental von Fish For Fish, einer sehr düsteren, nichtsdestotrotz sehr schönen Electroversion von Patti Smiths Dancing Barefoot von Heroina (ein Projekt aus Musikern der Kastrierten Philosophen, Die Erde und Romi Singh), über Kleinkindergeklimper von 8 TNT bis zur Garagen -Hymne Garbage Of My Life von Four Star Five, die mit so einem für Hilsbergs Ideologie programmatischen Titel nicht umsonst die vier LP-Seiten beschließt.

Natürlich kann man beklagen, daß Hilsberg den Schwerpunkt auf Bands seiner eigenen Labels gelegt hat, daß einige Bands wegen verschiedener Kombinationen und Soloprojekte überrepräsentiert sind (so die Kastrierten Philosophen und Die Haut) und daß diese oder jene Band fehlt. Trotz aller Mängel, die so ein Sampler haben muß, ist Geräusche für die 90er zum Einstieg und zum Überblick über die deutsche Independent-Szene einzigartig, und wenn man dann noch den etwas großkotzigen Anspruch des Titels vergißt, sogar eine ganz hervorragende Platte.

Thomas Winkler

Geräusche für die 90er, DLP, CD, ZickZack, EFA