Dien, Chinh, Chung und Ting

■ Lebensversuche in Vietnam, 22.15 Uhr, ZDF

Eine Gruppe Rollstuhlfahrer auf einem Schulhof in Ho Chi Minh-Stadt. „Kinder auf Rädern“ nennen die Vietnamesen die Querschnittsgelähmten. Die Hilfsorganisation Terres des hommes hatte die Kriegsopfer Anfang der Siebziger zur medizinischen Behandlung in die Bundesrepublik geholt. Nach Jahren des Aufenthalts in Deutschland kehrten die Kinder in ihre Heimat zurück. Eine Heimat, die ihnen fremd geworden war. 1975 beobachtete Hans-Dieter Grabe diese schwierige Heimkehr. Der Film Sanh und seine Freunde entstand (3sat zeigt den Film um 21 Uhr).

Heute taucht die Schulhof-Szene wieder auf und eröffnet den neuesten Film des ZDF-Redakteurs. „Menschen, deren Schicksal ich einmal in einem Film vorgestellt habe, lassen mich nicht mehr los“, sagt Grabe, „daher suche ich die Wiederbegegnung.“ Also fuhren er, Kameramann Horst Bendel und die querschnittsgelähmte vietnamesische Dolmetscherin Toh Beckmann im Dezember 1989 erneut nach Vietnam.

Der Bürgersteig einer Straße in Ho Chi Minh-Stadt, die Kamera nähert sich langsam einem der vielen Stände, mit flinken Fingern repariert der 27jährige Dien eine Armbanduhr. Erst auf den zweiten Blick ist zu erkennen, daß Dien dabei im Rullstuhl sitzt. Leise, so als ob ihn die von der Kamera angelockten Vietnamesen nicht hören sollen, antwortet der junge Mann auf die Fragen des Deutschen. Seine Erwiderungen vermitteln das Bild einer starken Persönlichkeit, die aus eigener Kraft ihren Platz in der Heimat finden will. Die betreuende Obhut von Terres des hommes hat Dien hinter sich gelassen. Er wohnt nicht in einem behindertengerechten Wohnheim der Hilfsorganisation, sondern privat. „Ich mußte mich zwingen, die Vergangenheit zu vergessen“ - damit ist der Krieg, aber auch die Zeit in Deutschland gemeint. Eine Zeit, in der die Wunden der Kinder so weit wie möglich geheilt wurden. Eine Zeit, die jedoch auch neue Probleme geschaffen hat.

„Ein Benehmen wie Ausländer!“, schimpft ein strenger Lehrer in Sanh und seine Freunde und markiert so die Stellung der Kinder zwischen den Kulturen. „Wenn ich daran denke, daß ihr mal weggeht, könnte ich mir eine Kugel in den Kopf schießen“, erklärte damals der 14jährige Chung gegenüber seinen Betreuern von Terres des hommes. Auch ihm ist Hans -Dieter Grabe 1990 in Vietnam wiederbegegnet. Chung, 30 Jahre alt, sitzt auf dem Boden einer sogenannten „Werkstatt für Behinderte“, vor ihm steht eine Stanze für Metallteile. Die linke Hand legt das Werkstück unter den Stempel, die rechte zieht den Stanzarm nach unten; eine Bewegung, tausend Mal pro Tag ausgeführt. „Bei der Arbeit denke ich gar nichts. Ich möchte nichts denken. Ich möchte gar nichts. Es ist alles so schrecklich“, sagt Chung. Er ist selsamerweise der einzige, der noch immer die deutsche Sprache beherrscht; die anderen haben sie längst vergessen, mit wem sollten sie auch deutsch sprechen bei ihren Arbeiten als Uhrmacher, Näherin oder Bauer.

Grabes Interesse gilt dem ausgewählten Einzelschicksal. In der Biografie des einzelnen, so die Prämisse, verdichtet sich Zeitgeschichte, wie z.B. in den Lebensversuchen der vier querschnittsgelähmten Dien, Chinh, Chung und Tung, die, miteinander verflochten, ein Mosaik vietnamesischer Nachkriegserfahrung ergeben. Ein Blick auf das Gesamtwerk Grabes offenbart der Versuch, seinen Protagonisten treu zu bleiben. Ein Film über Sanh, der durch eine Schußverletzung beide Hoden verloren hat und jetzt als Riksha-Fahrer in Ho Chi Minh-Stadt arbeitet, kommt voraussichtlich Anfang 1991 ins Programm.

Friedrich Frey