: Digital-Dante mit Turboinjektion
■ Der britische Regisseur Peter Greenaway hat zusammen mit dem Maler Tom Phillips für Channel Four Dantes „Divina Commedia“ in elektronische Videobilder übersetzt
Von Thomas Langhoff
Die Hölle, am Karfreitag des Jahres 1300. Ein Florentiner aus vornehmem Haus begibt sich auf eine ungewöhnliche Reise: Durch das Inferno will er gehen, das Fegefeuer durchqueren und schließlich das Paradies erreichen. Nachdem er den Wächtern am Höllentor - einem Leoparden, einem Löwen und einem Wolf - getrotzt hat, steigt er neun Sphären tief in die Hölle hinab, läßt sich von Phlegyas, Lucifers Bootsmann, durch die schlammigen Fluten des Styx steuern und überlistet Zerberus, den dreiköpfigen Höllenhund. Begleitet vom Stöhnen und Wimmern der Sünder und auf Ewigkeit Verdammten, gelangt er schließlich an die Wälle der Stadt Dis, in der Lucifer thront.
Dante Alighieri, der Poet, schickt Dante Alighieri, den Pilger, Anfang des 14.Jahrhunderts durch die 100 Cantos der Divina Commedia (ein einleitendes Canto und je 33 Cantos für das Inferno, das Purgatorio und das Paradiso), Peter Greenaway und Tom Phillips lassen Lucifer und Zerberus auf den Bildschirmen des späten 20.Jahrhunderts wiederauferstehen. Während zahlreiche Autoren dieses Jahrhunderts - von T.S.Eliot (The Waste Land) über Samuel Beckett (Dante and the Lobster) bis hin zu Thomas Pynchon (Gravity's Rainbow und V) Dantes Inferno in ihre Werke eingeflochten haben, sind Film- und Fernsehadaptionen rar: Den letzten nennenswerten Versuch unternahm der Hollywood-Regisseur Harry Lachmann im Jahre 1935: In Dantes Inferno spielten Spencer Tracy und Rita Hayworth, die damals noch Cansino hieß, die Hauptrollen.
Channel Four begann sich 1984 - ein Jahr, nachdem der Maler Tom Phillips eine illustrierte Dante-Version veröffentlicht hatte - für das Video-Experiment zu interessieren. Greenaway und Phillips sollten die ersten acht Cantos - den Abstieg vom Höllentor bis zur Stadt Dis - in TV-Bilder umsetzen. In vier Folgen mit je zwei Cantos raste Anfang August ein Digital-Dante mit Turboinjektion über die britischen Bildschirme. Canto VI, die ersten Sekunden: Ein Laserstrahl, kreisbogenschlagend auf tiefblauem Grund, verkündet die Weltraumzeit: Good Friday, 23 Uhr 24 Minuten. In regelmäßigem Rhythmus schlängelt sich eine Oszillatorenkurve am unteren Bildrand entlang. Koordinaten leuchten auf und versinken sofort wieder in der Tiefe. Rote, grüne und gelbe Farbschatten ziehen durch das Bild. Das waren drei Sekunden.
Fahle Wangen neigen sich langsam aus dem Dunkel nach vorn, die Augenlider heben sich und vertreiben den Technospuk. Ein Vogel, rot, rosa, pastellgrün, plustert sein computeranimiertes Gefieder und gleitet ins nächste Bild. Das waren anderthalb Sekunden.
Waden, Zehen, Füße und Schenkel treiben über den Bildschirm, Regen stürzt nieder, aus violetten Schatten ragen verzerrte Gesichter, Grimassen schielen ins Wohnzimmer, das Fleisch wabbelig, die Brüste gequetscht, Schweiß auf Schweiß, Genital an Genital. Das war die Hölle.
Der Soundtrack konkurriert mit diesen ineinander verwobenen Phantasiewelten: Verkehrslärm, Elektrosounds, Gewimmer und Gestöhne vermischen sich mit den Rezitationen. Talking Heads tragen das von Tom Phillips in Blankvers übersetzte Inferno vor. Den Blick starr auf die Kamera fixiert, verzögern die schwarzumhüllten Gesichter den Bilderfluß: Die Worte allein können sich entfalten.
Auf dem Schrottplatz der TV-Ästhetik haben Greenaway/Phillips neben den Talking Heads weiteres Secondhand-Material aufgestöbert: Der Leopard ist der sonntäglichen Safari-Sendung entsprungen, und an den Tornados und zerbombten Städten haben sich schon die Kunden der Nachrichtenmagazine dutzendfach delektiert.
Die computeranimierten Vögel flattern ihren Genossen aus den technisch hochgepushten „state-of-the-art-videos“ in nihilistischer Gleichmut hinterher: Genauso wie die TV -Tornados und die Leoparden gehen auch diese kunterbunten Kreuzungen zwischen Gustav Klimt, Andy Warhol (postmortem) und Atari-Computer schon jetzt in den Camp-Fundus einer vom Medium produzierten Welt ein - neue Techno Gimmicks sind nicht gefragt, nehmen wir den Kram von '79. Die wirkliche Hölle des 20.Jahrhunderts erscheint bei Greenaway/Phillips als Enzyklopädie simulierter Erfahrungen: Bild für Bild, Seite für Seite, ein neuer Fetzen Secondhand-Realität.
Dantes allegorische Reise durch die Unterwelt der Sünden setzt sich als Attacke auf den sensorischen Apparat fort: Kaum hat der Zuschauer ein Symbol entschlüsselt, jagt schon das nächste heran, nur um sogleich von Trickaufnahmen weggewischt zu werden. Zuweilen tummeln sich bis zu 16 Bilder auf dem „split screen“.
Die Gebrauchtbilderhändler Greenaway/Phillips laden zum munteren Symbole-Raten ein. Für den in griechischer Mythologie weniger bewanderten Zuschauer bieten Experten vom Historiker („Charon, Sohn des Erebus - Dunkelheit - und der Nox - Nacht - ...“) bis hin zum Metzger („Schweine fressen alles“) ihr Wissen feil. Den Fußnoten im Buch ähnlich, öffnen sich kleine Fenster auf dem Bildschirm, und die Autoritäten erläutern und kommentieren die Ereignisse.
Greenaway/Phillips übertragen die strengen Konstruktionen Dantes in rhythmische Bewegungen, ineinander überfließende Schnittfolgen und präzis vermessene Bilder - Greenaway macht aus seiner Faszination für symmetrische Anordnungen keinen Hehl.
Beim ersten Durchlauf ist der Zuschauer dieser visuellen und akustischen Tour de Force hilflos ausgesetzt: Bilder, Töne und Worte rasen über den Bildschirm, ohne daß ein Sinn ausgemacht werden könnte. Erst beim dritten und vierten Mal entdecken die Augen den Rhythmus der Bilderketten.
„Die Zukunft liegt nicht darin, Kino für das Fernsehen zu machen, sondern Fernsehen für das Kino“ - mit diesem obskuren Bonmot verteidigt Greenaway sich gegen den - ihm wohlvertrauten - Vorwurf, „prätentiöse“ Spielereien mit dem TV-Kunden zu treiben. TV-Dante sei eben nicht einfach TV es müsse wieder und wieder und wieder begutachtet werden. Ohne Videorecorder kein TV-Inferno. La Divina Commedia als Fernsehtest - das abschließende Urteil: Technische Prüfung: + + / Handhabung: - - / Nebenwirkungen: Bildsuchlauf defekt, nervöses Zucken der Augenwimpern, Schlafstörungen, Alpträume.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen