: Chronik eines angekündigten Todes
■ Vor 50 Jahren wurde Leo Trotzki in Mexiko ermordet
Von Elke Schubert
Der Mörder kam als Freund des Hauses. Trotz der Hitze, die an diesem Augusttag über dem Stadtteil Coyoacan brütete, trug er einen Regenmantel über dem Arm und einen Hut. Nathalie Trotzki berichtete später der mexikanischen Geheimpolizei, daß er auf ihre Fragen nach den unpassenden Kleidungsstücken unbestimmt auf zu erwartenden Regen hingewiesen hätte. Unter dem Mantel hatte der Besucher einen Eispickel und einen Dolch verborgen. Trotzki, der einst legendäre Kriegskommissar der Roten Armee, war drei Jahre zuvor, seiner sowjetischen Staatsbürgerschaft beraubt, nach einer Odyssee über die Türkei, Frankreich und Norwegen in Mexiko gestrandet. Mexiko war die letzte Zuflucht auf einem „Planeten ohne Visum“, wie er seine Situation nach langen, vergeblichen Versuchen, politisches Asyl in einem europäischen Land zu erhalten, ironisch bezeichnet hatte. Der mexikanische Präsident Cardenas bot in seiner sechsjährigen Amtszeit zahlreichen Schiffbrüchigen aus Europa die Gastfreundschaft seines Landes an, und so war für ihn die Aufnahme Trotzkis eine Selbstverständlichkeit. Es scheint, als hätte der Mörder zwei Tage vor dem 20.August schon einmal seinen großen Auftritt geprobt, indem er ebenfalls mit Hut und Mantel erschienen war und sich sehr merkwürdig benommen hatte.
„Der Hut auf dem Kopf... der Regenmantel über dem Arm... sein Sitzen auf dem Schreibtisch. War das nicht die letzte Generalprobe gewesen? Ohne Zweifel hatte er das alles nur getan, um sich bei der eigenen Tat desto sicherer zu fühlen und exakter in seinen Bewegungen zu sein. Aber wer hatte das vermuten können? Wer hätte gedacht, daß ausgerechnet der 20.August, ein Tag wie jeder andere, so verhängnisvoll werden sollte?“ (Nathalie Trotzki, in Salazar: Mord in Mexiko)
Das Opfer
Es hätte auch jeder andere Tag sein können. Die Todesdrohung durch Stalins Geheimpolizei GPU, die wie ein Damoklesschwert über Trotzki und seiner Familie hing, hätte auch schon in seinem ersten Exil auf Prinkipo, einer kleinen türkischen Insel im Marmarameer, wahrgemacht werden können. Seit Trotzki zusammen mit Nathalie und seinem Sohn Leon die Sowjetunion auf dem russischen Frachtschiff „Iljitsch“ bei Nacht und Nebel verlassen hatte, war er gezwungen, Leibwächter zu beschäftigen, hatte sich selbst bewaffnet und seine Domizile zu Festungen umbauen lassen. Auf Prinkipo blieb Trotzki unbehelligt, obwohl die Insel wegen ihrer Abgeschiedenheit die günstigste Gelegenheit für einen Mord ohne Risiko geboten hätte. Man kann nur vermuten, daß Stalin klug genug war, die damals noch große Anhängerschar Trotzkis in der Sowjetunion in seine Überlegungen einzubeziehen. Er wollte keinen Märtyrer. Seine Taktik konzentrierte sich zu diesem Zeitpunkt auf die politische Isolierung des Kriegskommissars im Ausland, wo Trotzki wegen seiner Veröffentlichungen in westlichen Zeitungen des Verrats an der Revolution bezichtigt werden könnte. Die Geschichte hat gezeigt, daß Stalins Rechnung aufging: In der Sowjetunion wurde die Opposition während der Schauprozesse aufgerieben, und im Ausland fielen die ohnehin unbedeutenden trotzkistischen Gruppen in zermürbenden Spaltungsritualen auseinander.
Warum mußte Stalin Trotzki bis nach Mexiko verfolgen lassen, wo dessen Einfluß verschwindend gering war, obwohl er die einheimische Presse reichlich mit Artikeln versorgte; wo er schon beinahe resigniert hatte, zwar noch Bücher schrieb, aber nicht mehr in das aktuelle Geschehen eingreifen konnte? Warum mußte der ganze Aufwand betrieben werden, dem Mörder eine neue, auch intensiven Nachforschungen standhaltende Identität zu verschaffen und ihn ein Liebesverhältnis mit Trotzkis Vertrauten Sylvia Ageloff eingehen zu lassen?
„Von den Moskauer Prozessen an wird die Ermordung Leo Trotzkis eine politische und logische Notwendigkeit. Es hat keinen Sinn, Zehntausende Menschen zu erschießen, wenn der beste Kopf der Revolutionsgeneration, den man nie aus den Annalen der Geschichte löschen können wird, weiter in Freiheit lebt. Und es ist klar, daß in den Augen der durch die Schauprozesse vergifteten russischen Öffentlichkeit Trotzki gegenüber alles erlaubt ist.“ (Victor Serge in: Leo Trotzki - Leben und Tod). Stalin hatte nahezu Trotzkis ganze Familie töten lassen: Leon, der Trotzki ins Exil folgte, und dann versuchte, in Deutschland eine funktionsfähige trotzkistische Gruppe aufzubauen, starb unter mysteriösen Umständen in einem französischen Krankenhaus. Ein anderer Sohn, der nur als Wissenschaftler arbeiten wollte und sich der Politik konsequent verweigerte, blieb in einem sowjetischen Lager verschlollen. Trotzkis Tochter aus erster Ehe nahm sich im Berliner Exil das Leben. Es traf jeden, der das Pech hatte, mit Trotzki auch nur entfernt verwandt oder befreundet zu sein.
„Er wird sechzig. Er ist allein. Er hat das Gefühl, der letzte Kämpfer einer vernichteten Legion zu sein. Er wird für viele Menschen ein Symbol, und er weiß es. Seine Pflicht besteht darin, eine Dokterin, eine geschichtliche Wahrheit... lebendig und rein zu erhalten. Aus diesen Gründen ist er verurteilt. Die Hinrichtungen in Moskau, in Sibirien, in Turkestan... verurteilen den Verbannten in Mexiko... Seit dem ersten Moskauer Prozeß, das heißt seit drei Jahren erwarten wir den Mörder mit einer Gewißheit, die aus dem Herzen kommt“, schreibt N.Trotzki in Victor Serges Trotzki-Biographie.
Wie es um die politischen Analysen und Theorien bestellt ist, läßt sich nur mühsam erkennen, wenn man sich heute im Jahr 1990 durch Trotzkis Schriften quält. Einzig seine Analyse des herannahenden Faschismus in Deutschland ist bestechend klarsichtig und prophetisch. Obwohl er in dem Machtkampf mit Stalin von Beginn an auf verlorenem Posten stand, hat er den Fehdehandschuh immer wieder aufgenommen. Es war ein ungleicher Kampf, aber er ließ keine Verleumdung seiner Person unbeantwortet. Heute jedoch sind die ideologischen Zwistigkeiten nicht nur größtenteils schwer verständlich, sie sind auch unerträglich langatmig und ermüdend, weil Trotzki akribisch die ungeheuerlichen Anschuldigungen Stalins und seiner Führungsclique widerlegte und sich gerade damit auf deren Wahnsystem einließ. Viel ertragreicher erscheint mir die Auseinandersetzung mit seiner Biographie, die neben der Anerkennung für einen Menschen, der auch in einer ausweglosen Situation nicht aufgeben will und selten resigniert hat - auch nicht in der Gewißheit des Todes -, facettenartig die Weltgeschichte dieses Jahrhunderts widerspiegelt. Was ist nicht alles in seinem Leben eingefangen: seine Rolle als kluger Taktiker der russischen Revolution, die Schauprozesse, das Leben eines Exilanten in den dreißiger Jahren, die einflußreiche revolutionäre Kunstszene in Mexiko, seiner letzten Station. Seine Bemühungen um praktischen politischen Eingriff aus dem Exil waren meist vergeblich. Nur einmal nach seiner Vertreibung war es ihm vergönnt, öffentlich aufzutreten und eine Rede zu halten, die sogar im Rundfunk übertragen wurde
-das war 1932 in Kopenhagen.
Der Mörder (die Mörder)
Der Mörder betrat also an diesem heißen Augusttag das Haus seines Opfers, unter dem Vorwand, ihm ein Manuskript zu zeigen und um Beratung resp. Korrektur zu bitten. Er hatte sich unter dem Namen Frank Jacson eingeführt, als Anhänger der trotzkististischen Bewegung und als Verlobter von Sylvia Ageloff, eine der Vertrauten des Hausherrn. Sylvia, Mitglied der amerikanischen Gruppe der Vierten Internationale, traf Jacson 1938 in Paris. Er stellte sich als reicher, reiselustiger Sohn eines belgischen Diplomaten vor, und es gelang ihm, ihre Zuneigung zu gewinnen. 1940 fuhr das Paar nach Mexiko, wo es alte Freunde der Trotzkis kennenlernte. Trotzki hätte es als unhöflich empfunden, Sylvias Verlobten nicht in sein Haus zu bitten. Zunächst hielt sich Jacson im Hintergrund, vorgeblich beschäftigte er sich mit einträglichen Handelsgeschäften, und nur wenige Male hielt er sich in Trotzkis Haus auf, was jedoch reichte, um ungehindert das streng bewachte Tor zu passieren. Dieser Umstand war wichtig, denn im Mai 1940 hatte eine Gruppe von 30 bis 40 GPU-Agenten das Haus gestürmt, die Wachen überwältigt und versucht, Trotzki zu töten. Wie der mit der Untersuchung beauftragte Chef der mexikanischen Geheimpolizei, Salazar, in seinem Bericht Mord in Mexiko schrieb, waren die Wände des Hauses mit Einschußlöchern von Maschinengewehren übersät. Trotzki blieb jedoch unverletzt, was Salazar zunächst vermuten ließ, Trotzki hätte das Ganze nur inszeniert, um seine Bedrohung wieder ins Gespräch zu bringen. Erbitterte Auseinandersetzungen in den mexikanischen Zeitungen folgten, eine Gegendarstellung löste die andere ab. Und erst in der Retrospektive konnte sich Salazar eingestehen, daß er Trotzki zu Unrecht verdächtigt hatte.
Jacson, gegen den Trotzki in den letzten Tagen ein leises Mißtrauen entwickelt hatte, brauchte den Wachen beim Betreten des Hauses nur freundlich zuzunicken und konnte ungehindert seinen Plan ausführen. Mit dem Mißlingen seiner Flucht hatte er jedoch nicht gerechnet. Seine wahre Identität konnte jahrelang nicht festgestellt werden, und um sie rankten sich die absurdesten Gerüchte. Während der Verhöre durch die mexikanische Geheimpolizei schwieg er hartnäckig über seine Identität und seine Auftraggeber. Man fand einen Brief bei ihm, der im Falle seines Todes Auskunft über seine Motive geben sollte: Als enttäuschter Anhänger Trotzkis wolle er durch dessen Tod die trotzkistische Bewegung retten und ein teufliches Komplott gegen die Sowjetunion verhindern. Julian Gorkin stellt in Salazars Mord in Mexiko die Vermutung auf, daß der Brief in New York geschrieben, diskutiert und sorgfältig redigiert worden wäre, das Datum war handschriftlich eingesetzt worden.
„Der Brief ist eine ungeheure Dummheit... Es ist dasselbe, als hätte die GPU dem Mörder ihre Visitenkarte in die Tasche gesteckt. Zweifellos wurde er in der leisen Hoffnung geschrieben, daß dieser ebenfalls umgebracht werden würde. Dann hätte die GPU sogar drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Der Agent tot und sein 'Testament‘ als einziges Beweisstück“ (Mord in Mexiko).
In einem aufsehenerregenden Prozeß, der wochenlang die mexikanische Presse bewegte, wurde Jacson, der sich jetzt Monard nannte, zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt - der Höchststrafe in Mexiko. 1960 erschien ein Buch des amerikanischen Ostexperten Isaac Don Levine, das die wahre Identität Jacsons enthüllte. Nach intensivem Studium der Polizeiakten kam Levine zu dem Ergebnis, daß es sich bei Jacson-Monard zweifelsfrei um Jaime Roman Mercader handeln müßte, dessen Familie in den ersten Reihen der kommunistischen Weltbewegung wirkte.
„R.Mercader sitzt in der Falle seiner eigenen Logik. Er kann seine Maske nicht ablegen, ohne dabei zugeben zu müssen, daß er ein sowjetischer Agent ist. Enthüllte er seine Identität, dann käme dies beinahe dem Zugeständnis gleich, daß der Kreml die Ermordung vorbereitete und ausführte.“ (Levine in: 'Spiegel‘ 21/1960).
Schon im September 1950 zerbrach die Legende des Attentäters ohne Namen: ein mexikanischer Kriminalist entdeckte in einem spanischen Archiv die Polizeiakte über Mercador, in der sich auch dessen Fingerabdrücke befanden. 1960 wurde Mercader, der sich jetzt als tschechischer Staatsbürger ausgab, vorzeitig aus der Haft entlassen und in ein Flugzeug nach Havanna verfrachtet. Dort verlieren sich seine Spuren über Prag und Moskau.
Die Tat
„Jemand erklärt Jacson Monard, daß der Augenblick gekommen ist... Bis zum Monatsende muß der Mord vollbracht sein... Und wachsame Schatten begleiten alle seine Schritte, kontrollieren, beherrschen ihn. Wenn er nicht gehorcht, wird er es sein, der unweigerlich getötet wird. Man wird ihn einfach ersetzen... Der Zeitraum ist festgelegt, die finanziellen Mittel praktisch unerschöpflich. Wenn er gehorcht, ist zwar das Risiko groß, aber er hat immerhin die Aussicht, sich retten zu können. Es ist ein absoluter Grundsatz, daß der Sicherheitsapparat seine Agenten nie freiläßt, und die totalitäre Maschinerie ist mächtig...“ (Victor Serge in: Leo Trotzki).
Das Opfer beugte sich über das mitgebrachte Manuskript, und der Mörder schlug mit dem Eispickel auf dessen Kopf ein: „von oben nach unten, von rechts nach links und von vorne nach hinten“, ist im Polizeibericht verzeichnet. Mit dem schnellen Tod des Opfers rechnend, wurde Mercader, alias Monard, alis Jacson, unvorsichtig. Trotzki wehrte sich erbittert, stieß einen markerschütternden Schrei aus, der seine Frau und die Leibwächter alarmieren sollte, und verbiß sich in der Hand des Täters. “... mir schien, als zersäge der Schrei mein Gehirn... ich sah, wie Trotzki sich erhob... Dann schlug ich zurück, und er fiel zu Boden“, erinnert sich der Mörder später ('Spiegel‘, 21/1960). Die Leibwächter konnten Mercader überwältigen und hätten ihn sofort getötet, wenn Trotzki nicht so eindringlich Einspruch erhoben hätte. Der Mann sollte sprechen, sollte seine Auftraggeber nennen. Schon halb bewußtlos, war Trotzki dennnoch in der Lage zu erkennen, welch unschätzbare Aufklärung dieser Mann über die Verstrickungen und Gewalttaten der GPU leisten könnte. Der Mörder war schon reichlich lädiert, als endlich die mexikanische Polizei eintraf. Fotos von seiner Verhaftung zeigen ihn, zwischen zwei Beamten mehr hängend als stehend, mit einem dicken Kopfverband und geschwollenem Gesicht. Am 21.August um sieben Uhr abends starb Leo Trotzki in einem Krankenhaus in Mexiko-City an den Folgen seiner Verletzungen. Die Autopsie ergab einen Schädelbruch, Risse in der Hirnhaut und eine mehrere Zentimeter tiefe Wunde in der Hirnmasse. „Man fühlte, daß sich hier der Akt eines universellen Dramas abspielte: das Drama der russischen Revolution, das mit Lenins Tod begonnen hatte und dessen letzte Phase der vernichtende Kampf zwischen Stalin und Trotzki sein sollte.“ (Salazar in: Mord in Mexiko)
Literatur:
General Sanchez Salazar: Mord in Mexiko. Frankfurt 1952
Victor Serge: Leo Trotzki - Leben und Tod. München 1980
Isaac Deutscher: Trotzki, der verstoßene Prophet 1929-1940. Stuttgart 1972
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen