„Sowjet-Spieler mit mehr Kampfgeist“

■ Nikolai Krogius (59), Doktor der Psychologie und Großmeister, äußert sich zur komplizierten Psychologie des Schachs

INTERVIEW

taz: Sie haben in der UdSSR zehn Bücher über Schachpsychologie veröffentlicht. Welche Bedeutung hat die Psychologie im Schachsport?

Nikolai Krogius: In einer Schachpartie prallen zwei Spielercharaktere aufeinander. Das Zweikampfelement macht Schach zum Sport. Aber wie in allen Lebensbereichen wird die psychologische Seite zu wenig beachtet.

Ist Psychologie also eine Waffe, seinen Gegner zu besiegen?

Sie kann es sein. Ich gebe ein Beispiel: Bei einem Turnier vor vielen Jahren in Bulgarien mußte ich die letzte Partie gewinnen, um Turniersieger zu werden. Zufällig bekam mein Gegner kurz vor Rundenbeginn mit, welche Eröffnungsvariante ich vorbereitete. Er war mein Zimmernachbar, er irrte sich in der Tür, sah mich an meinem Analysebrett, warf instinktiv einen Blick auf die Stellung und erkannte dann erst seinen Irrtum und entschuldigte sich.

Deshalb dachte er, ich müsse eine andere Eröffnung wählen. Es wäre kein Problem gewesen, aber ich spielte die vorbereitete Variante. Tatsächlich war mein Gegner verunsichert, und ich gewann die Partie leicht. Der Überraschungsmoment brachte mir die psychologische Initiative.

Viele Spieler sagen, sie machen ihre Züge völlig unabhängig vom Gegner und der Situation außerhalb des Bretts. Psychologische Mittel gelten als unlauter.

Unlauter ist es, zu schauspielern oder den Gegner zu stören. Schachpsychologie ist weniger ein Mittel, jemanden zu besiegen, als die eigenen Fehler zu erkennen und zu vermeiden. Man muß seine eigene Spielweise studieren, analysieren, wie man in verschiedenen Turniersituationen, Stellungstypen oder mit Gegnertypen zurechtkommt.

Ist Schachpsychologie also erlernbar?

Ein ehrgeiziger Spieler muß sie sogar erlernen. Wer sich nicht näher mit ihr beschäftigt, verallgemeinert leicht den Einzelfall. Alle sind sich einig, daß ein starker Spieler theoretische Kenntnisse, praktische Erfahrung und Gesundheit benötigt. Der vierte Baustein ist die Psychologie.

Gibt es einen psychologischen Ost-West-Konflikt? Spielt ein Großmeister gegen einen Kollegen aus dem Westen anders als gegen einen sowjetischen Spieler?

Unbewußt sicher. Die sowjetische Spielweise unterscheidet sich ein wenig von der westlichen, das verwischt aber immer mehr. In der UdSSR gibt es eine feste Schachkarriere vom Pionier bis zum Großmeister, in jeder Spielstärke gibt es zahlreiche Konkurrenten. Deshalb haben sowjetische Spieler mehr Kampfgeist. Schachtheorie spielt eine größere Rolle, im Westen wollen mehr Spieler als kreativ gelten.

Was sind ihre nächsten Projekte?

Ich arbeite an einer Schachlehre für Anfänger vom psychologischen Standpunkt aus. In einem Experiment habe ich herausgefunden, daß mehr als 50 Prozent der Variantenberechnung eines Großmeisters losgelöst von der Ansicht des Schachbretts in der Vorstellung abläuft. Ich versuche, schon bei Anfängern die schachliche Vorstellungskraft zu fördern. Oder wissen Sie auf Anhieb, welche Farbe das Feld f4 hat?

Interview: Messelwitz