: „Wir sind nicht das Sparschwein der Einheit!“
■ Tausende von Beschäftigten im öffentlichen Dienst der DDR folgten gestern dem Aufruf der ÖTV zum Warnstreik / Der Ostberliner öffentliche Nahverkehr war für eine Stunde lahmgelegt
Berlin (taz) - Mit Sirenengeheul und Hupkonzert trafen sich gestern mittag um elf Uhr mehrere tausend warnstreikende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes zu einer zentralen Kundgebung in Ost-Berlin vor dem Amt des Ministerpräsidenten Lothar de Maiziere. Der Warnstreik wurde überall in der DDR durchgeführt.
In Berlin waren sowohl die Bediensteten der städtischen Müllabfuhr wie auch die Beschäftigten im öffentlichen Nahverkehr dem Aufruf der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) zum Warnstreik gefolgt und legten damit eine Stunde lang den gesamten Bus- und Bahnverkehr lahm.
Auch die grenzüberschreitenden Verkehrslinien waren in dieser Zeit unterbrochen. In Ost-Berlin und an den Übergangsstellen nach West-Berlin kam es zu erheblichen Verkehrsstaus, da viele Fahrgäste auf ihr Auto umstiegen. Auf der Kundgebung erschienen trotz dauerhaftem Nieselregen auch Krankenwagenfahrer, Feuerwehrmänner, Beschäftigte der Wasserwirtschaft, der Justiz, der Stadtwirtschaft sowie die gesamte Finanzabteilung der Magistratsverwaltung.
Auf Transparenten forderten sie: „Öffentlicher Dienst kein Schlußlicht!“ und „Die haben ihre Diäten - alle brauchen mehr Moneten“. Der Westberliner ÖTV-Vorsitzende Kurt Lange heizte die Stimmung mit der Forderung ein, die Gehälter möglichst schnell an das westdeutsche Niveau anzupassen und erntete dafür rauschenden Beifall. Sein ÖTV -Kollege Norbert Stirnal, Vorhandwerker bei den Ostberliner Verkehrsbetrieben (BVB), verlangte, daß der öffentliche Dienst nicht zum „Sparschwein der deutschen Einheit“ degradiert werde.
Wie berichtet, strebt die ÖTV für die rund 1,6 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in der DDR eine Erhöhung der Einkommen um 350 D-Mark, mindestens aber um 30 Prozent plus Sozialzuschlag von 50 D-Mark für jedes Kind an.
Weitere Forderungen sind der Abschluß von Tarifverträgen über den Schutz von Arbeitsplätzen und -einkommen sowie die Übernahme der bundesdeutschen Tarifstrukturen. Die zweite Tarifrunde war vergangenen Freitag ohne Arbeitgeberangebot beendet worden, die Tarifverhandlungen sollen erst am 3.September fortgesetzt werden.
Während des gestrigen einstündigen Warnstreiks hatten die Krankenhäuser und die Feuerwehr einen Notdienst organisiert.
Maz
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