DDR ad hoc in die EG integriert

■ Delors beantragt Sonderermächtigung, um die von der EG-Kommission vorgeschlagenen Anpassungs-, Übergangs- und Ausnahmeregelungen im Vorgriff auf eine für Ende November erwartete Entscheidung des Europaparlaments in Kraft zu setzen

Aus Brüssel Michael Bullard

Die deutsch-deutsche Einigungshektik mag alle Welt irritieren, nicht aber die EG-Kommissare in Brüssel. Sie hätten den Einigungsprozeß voll im Griff, betonte Kommissionspräsident Jacques Delors am Dienstag. Eigens dazu habe man im Schnellverfahren ein 129seitiges Dokument erarbeitet, das die rechtliche Integration der DDR in die EG regelt. Schließlich werden mit der Vereinigung die EG -Verträge (Primärrecht) und alle von den EG-Gremien gefaßten Beschlüsse (abgeleitetes Recht) automatisch auch für das Gebiet der DDR gelten. Zudem bedarf die Gebietserweiterung nach dem auch für die Bundesrepublik bindenden EG-Recht der Zustimmung der EG-Gremien Europaparlament (EP) und Ministerrat. Die EG-Außenminister haben bereits ihre Zustimmung signalisiert. Im Falle des EP fürchtet Delors aber, daß es die Europa-Abgeordneten nicht schaffen, die für eine Entscheidung dieser Tragweite notwendigen zwei Lesungen noch vor dem jetzt anvisierten Einigungstermin am 14. Oktober durchzuführen.

Der Chefeuropäer greift zu radikalen Mitteln: Nach einer Sondersitzung der Kommission am Dienstag beantragte Delors eine Sonderermächtigung, um die von der Kommission vorgeschlagenen Anpassungs-, Übergangs- und Ausnahmeregelungen im Vorgriff auf eine für Ende November erwartete Entscheidung des Europaparlaments in Kraft zu setzen.

„Wir wollen das Parlament damit auf keinen Fall unter Druck setzen“, versicherte Binnenmarktkommissar Martin Bangemann. Aber es wäre „unlogisch, wenn die DDR für einen Monat das EG -Recht striktestens einhalten müßte, bis das EP schließlich den Ausnahmen zustimmt“. In der kommenden Woche wird der ehemalige Bonner Wirtschaftsminister mit dem erweiterten Präsidium des Europaparlaments über das Ermächtigungsgesetz verhandeln.

Nach den Vorstellungen der Kommission soll die DDR -Integration der EG nicht mehr als sieben Milliarden DM in den nächsten drei Jahren kosten. Den Zahlungen im Rahmen der EG-Strukturfonds in Höhe von rund zehn Milliarden DM, so Delors, stünden Einnahmen aus Zoll- und Mehrwertsteuerabgaben in Höhe von drei Milliarden DM gegenüber. Der Kommissionschef versicherte, daß die DDR -Hilfe keine Haushaltsaufstockung nötig mache. Außerdem „wird kein einziger Pfennig wird von den Zahlungen an die anderen Länder abgeknapst“. Die Strukturfonds der EG dienen der Förderung wirtschaftlich unterentwickelter Gebiete in der EG. Hauptnutznießer sind bislang die südeuropäischen Länder, die sich dagegen wehren, daß die Förderung der DDR auf ihre Kosten geht. Interessant ist, daß die EG-Kommission die baldige Einstellung der Zonenrand- und Berlinförderung fordert. Außerdem bemängeln die Eurokraten, daß landwirtschaftliche Produkte aus der BRD zur Zeit den DDR -Markt überschwemmen. Als Folge davon werden verstärkt DDR -Agrarprodukte zu Schleuderpreisen auf den Märkten der anderen EG-Länder angeboten, was die lokalen Anbieter benachteiligt. Das, so die EG-Kommission, „muß schleunigst unterbunden werden“.

Während bei den technischen Vorschriften - beispielsweise zum Arbeitsschutz - und bei den Wettbewerbsbestimmungen sowei bei den landwirtschaftlichen Regelungen kaum Ausnahmen vorgesehen sind, schlägt die Kommission umfangreiche Sonderregelungen bei den Umweltnormen vor. Der „katastrophale Zustand“ der Umwelt, so Delors, mache vor allem bei den Regelungen zu Wasser- und Luftqualität sowie bei der Abfallgesetzgebung Ausnahmen bis 1995/96 nötig. Der Kommissionschef begründete dies mit den Schwierigkeiten bei der Umstellung der Chemie- und Energieindustrie. Problembereich ist vor allem der Braunkohlebergbau.

Weiterhin schlägt die Kommission vor, daß die außenwirtschaftlichen Verpflichtungen der DDR, die von der EG übernommen werden müssen (bei den bilateralen Handelsverträgen, die die DDR mit allen RGW-Staaten und einigen Entwicklungsländern geschlossen hat, ist die EG Rechtsnachfolgerin), für ein Jahr mit einer möglichen Verlängerung von einem weiteren Jahr aufrechterhalten werden. Während dieser Zeit sollen auf die Importe in die DDR keine Zölle erhoben werden. Hauptbetroffene ist die Sowjetunion, mit der die DDR rund 55 Prozent ihres gesamten Außenhandels abwickelt. Die angestrebte Zollbefreiung deklarierte Delors als indirekte Hilfe an die Sowjetunion für die Integration ihrer Wirtschaft in den Welthandel.