: Im Junggesellendunkel
■ „Der Traum eines lächerlichen Menschen“ im Garn-Theater
Plötzlich war dieser kranke Sommer vorbei, und der Herbst umhüllte freundlich und sanft das, was geschah, und ließ es langsamer geschehen. Zwischen Sommer und Herbst und plötzlich wieder Sommer, zum letzten, sitzt man still in einer ausgedehnten Gegenwart. Und ein anderer sitzt „bis zum Morgengrauen“ in seinem Sessel und tut nichts und denkt nicht einmal. „Ich sitze einfach so, irgendwelche Gedanken schweifen umher, und ich lasse sie ruhig gewähren“. Der monologische Held aus Dostojewskis letzter Erzählung hat beschlossen, sich umzubringen, weil ihm „alles“ „vollkommen einerlei“ geworden ist. Dies Einerlei ist nicht Frucht bestimmter Enttäuschungen, denn ihm ist alles „ganz“ einerlei. So gibt sich seine Gleichgültigkeit als Wunsch nach Einheit, nach Teilhabe an allem zu erkennen, und der Wunsch nach Allem verkehrt sich in sein Anderes: in den Wunsch nach Nichts. Ein paar Momente wartet er noch zwischen Leben und Tod, in seiner Wohnung im fünften Stock eines Mietshauses.
Verstrickt in die depressiven Denkzwänge krankhafter Selbstbeobachtung, wie der Held im häufiger gespielten „Untergrund“ von Dostojewski, zugleich kindlich - „ganz bestimmt“ will er sich töten - schläft er ein, träumt von Schuß, Schmerz, Sarg, von einem Engel, der ihn ins Arkadien der Frühsozialisten führt, wo alles mit allem spricht und teilt. Alles ist schön; doch mit den Jahrhunderten bringt der fremde Träumer mit seinen partikulären Interessen, aus Tändelei, wie auch immer, den zweiten Sündenfall in die Welt. Und aus Tändelei entsteht Lüge, aus Lüge entstehen Wollust, Eifersucht, Grausamkeit, Entzweiungen/Bündnisse, Privateigentum, Ich, Gut und Böse, Verbrechen/Gerechtigkeit, Religion, Wissenschaft. Der klassische Niedergang wiederholt sich, und der Träumende erwacht als Verkünder der „Wahrheit“, die er meint, gesehen zu haben.
Das ist der Inhalt des dreißigseitigen Monologs, den das monologerfahrene Garn-Theater - Adolfo Assor und Nadia Schmidt - in den Kellergewölben der Katzbachstraße 19 inszeniert haben.
Kaum dreißig Zuschauer faßt der hohe Raum; mattschwarz sind die Wände, daß die Blicke ins Dunkel gesaugt werden. Wenn die Augen sich sattgesehen haben, wird es langsam wieder hell, und ein braunes Bündel bewegt sich auf dem Schrank, der als Eingangstür dient, und reckt sich und setzt sich: „Ich bin ein lächerlicher Mensch...“ und springt auf den Boden und kratzt sich an den Füßen und spricht fast unaufhörlich, mit oder ohne Pelzmantel. Adolfo Assor, ein Chilene, der seit vier Jahren in Berlin lebt, vermittelt durch ein fast übertrieben rhythmisiertes Theaterdeutsch, durch manchmal manirierte Gesten eine formale - nie künstliche - Distanz zum Gesprochenen.
Die Lächerlichkeit des russischen Junggesellen erscheint bei ihm als Gegenteil des Narzismuß dessen, der seine Sinndefizite (wie es vielleicht nicht anders sein kann in einer schweigend atomisierten Gesellschaft, deren Jämmerlichkeiten schon fast zu jämmerlich sind, als daß sie sich adäquat inszenieren ließen) grinsend, starr oder prahlerisch, als Kunst oder Literatur in die Öffentlichkeit trägt. Lächerlich unglücklich ist er zunächst, weil er sich paranoid im Mittelpunkt der Welt wähnt, lächerlich später für die anderen, die er deswegen liebt und mit denen er lachen möchte -, weil er verkündet.
Das Untermieterzimmer des Junggesellen, sein Lehnstuhl im fünften Stock, steht auf dünnen Baumstämmen; vielleicht auch, um auf das archaische Element in der Depression und auf das Affenparadies Arkadiens zu verweisen. Wenn Assor spricht, hört man im Nebenzimmer den Hauptmann a.D. mit seinen Kumpanen Karten spielen, raufen, trinken, sich ärgern, schließlich einschlafen. Groß ist die Kunst des Schauspielers, der die Einbildungskraft des Zuschauers zu seinem wichtigsten Requisit machen kann. Ein roter Stoffetzen ist zweierlei: die geträumte Wunde über dem Herz und der Revolver; und ist so mehr, als es die beiden Gegenstände zusammen gewesen wären. Es gibt keinen Sarg, in dem der Erzähler, Schauspieler sich verstecken könnte. Ungeschützt liegt er auf dem Rücken. Sein Kopf hängt über den Rand der Bühne. Durch das Scheinwerferlicht aus dem Zusammenhang des Körpers gerissen, redet der Mund von dem Tropfen, der so ärgerlich unaufhörlich, im immergleichen Rhythmus quälend auf seine Wunde tröpfelt, bis der Mund wen auch immer anruft: „Wenn es etwas Vernünftigeres gibt als das, was jetzt geschieht, so gestatte ihm, auch hier zu herrschen.“
Assor gelingt etwas sehr Seltenes; etwas, das bei Peter Brook - vielleicht etwas anachronistisch - „heiliges Theater“ genannt wird; ein Theater also, das Unsichtbares sichtbar macht, in dem die ZuschauerInnen zum Teil des bespielten Raumes werden, ohne daß sie, um ihre Subjektivität betrogen, als Zuschauer verschwinden würden. Expressiv gestikuliert er, flüstert manchmal, läßt im Dunkel den Raum sich mit den Vorstellungen und Gedanken der Zuschauer füllen. Manchmal taucht er plötzlich vor der ersten Reihe auf und verschreckt brüllend die Zuschauer, die in ihrem Schreck doch hineingezogen werden ins Spiel. So oft ruft er „Selbstmord“ in den Raum, wie Zuschauer da sind daß einem Angst und Bange werden kann - und man nebenbei, das Feuilleton noch einmal haßt, das in so widerwärtiger Arroganz vom „dilettantischen Selbstmord“ van Goghs geschrieben hatte. Tief blickt er am Ende einem jeden in die Augen: „Und jetzt gehe ich, jetzt gehe ich.“ Und unter dem Keller des Garn-Theaters befindet sich ein weiterer Keller; riesige, muffige, düstere Hallen. Das ist eine andere Geschichte.
Detlef Kuhlbrodt
„Der Traum eines lächerlichen Menschen“ noch bis zum 9.9. täglich um 20.30 Uhr im Garn-Theater, Katzbachstraße 19, Berlin 61.
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