Geschichte als Augenlehre

■ Über das Filmprogramm zur „Bismarck-Ausstellung“

Am 6.12.1940 wurde im Ufa-Palast am Zoo Wolfgang Liebeneiners „Bismarck„-Film uraufgeführt. Laut Premierenbericht des 'Filmkuriers‘ teilte sich der Regisseur mit Joseph Goebbels und den beiden Hauptdarstellern Paul Hartmann (als Bismarck) und Friedrich Kaßler (als König Wilhelm) eine Loge. Im Publikum wimmelte es von politischer und militärischer Prominenz. „Das große Orchester des Deutschlandsenders unter Stabführung von Staatskapellmeister Prof. Robert Heger leitete mit dem 1. Satz aus Beethovens 5. Sinfonie die Aufführung machtvoll ein, nachdem vorher die Wochenschau gelaufen war. Dann rollte der Film ab, der die Besucher von Anfang bis Ende in den Bann zog. Der Kampf Bismarcks um die Einigung Deutschlands wurde zum packenden Erlebnis. Man spürte die Parallelen von einst und jetzt. Was damals eingeleitet wurde, hat heute unter der Führung Adolf Hitlers seine großdeutsche Vollendung erfahren“ ('Film -Kurier‘, 7.12.1940).

Am Sonntag beginnt das Filmprogramm zur Bismarck. Preußen. Deutschland und Europa-Ausstellung, die ab nächster Woche im Martin-Gropius-Bau zu sehen ist: in klassisch-chronologischer Reihenfolge werden 39 Filme mit einmaliger Wiederholung gezeigt. Deutsche und europäische Geschichte vom Wiener Kongreß über den Weberaufstand in Schlesien, über Ludwig II. von Bayern, die Pariser Commune bis hin zum Attentat von Sarajewo. Es sind Stummfilme dabei (z.B. Die Weber von Friedrich Zelnik, Deutschland 1927), Raritäten (z.B. Senso und Il Gattopardo/Der Leopard von Lucino Visconti in den Originalfassungen mit deutschen Untertiteln oder der lange verschollene Film The Life of Emile Zola von William Dieterle (USA 1937). Ein solches Filmprogramm kann sehr schnell eine einfallslos-teure, auf Repräsentation bedachte, eher zufällige Bebilderung des 19. Jahrhunderts für Hobby-Historiker und interessierte Senioren werden. In diesem Fall aber verspricht das Konzept des Programms etwas Gegenteiliges: eine interdisziplinäre Pionierarbeit zwischen Cinematographie und Geschichtswissenschaft. Letztere tut sich ja, zumindest an hiesigen Universitäten, sehr schwer damit, Film als historische Quelle wahrzunehmen. Vielleicht, weil bei diesem Medium die traditionellen heuristischen Werkzeuge versagen?

Um z.B. die Erzählweise, Ästhetik und politische Strategie eines Nazifilms über Bismarck analysieren zu können, benötigt man die Kategorien von Film- und Geschichtswissenschaft. Wenn der Regisseur Liebeneiner fast allen Aristokraten zum Zeichen ihrer Verweichlichung fusselige, gelockte Bärte ankleben läßt, gehört diese Metapher genauso zum politischen Konzept wie die dramaturgische Entscheidung, das Filmporträt erst 1862, mit Bismarcks Berufung zum Ministerpräsidenten, beginnen zu lassen. Nichts deutet bei diesem strammfleischigen Darsteller auf die wirre, wenig gradlinige Jugend des historischen Vorbilds hin. Vom stets zugeknöpften Anzug bis hin zur Rhetorik seiner Reden im Landtag verkörpert dieser Film-Bismarck einen gleichbleibend mutigen, einzelkämpferischen, gehorsamen Politiker und vielbeschäftigten Vater, der von seinen ponyreitenden Kindern ebenso statisch geliebt wird. Bismarcks/Hartmanns Gefaßtheit erreicht in der Darstellung jene absurde Höhe deutscher Dienstbeflissenheit, die zuletzt, in einer Art mentalitätsbedingter Seelenverwandtschaft, Herr Neusel erreicht hat: beide Politiker gehen nach Attentatsversuchen ganz demonstrativ, so als wäre nichts gewesen, ihren alltäglichen Verrichtungen nach. Neusel setzt sich, wie die Tagesschau zeigte, an den Schreibtisch; im Film ißt Bismarck/Hartmann nach dem Zwischenfall im Kreise seiner Familie mit Appetit die bereitstehende heiße Suppe.

Separiert man die verschiedenen Ebenen des Films - Kamera, Dramaturgie, Licht, Schnitt, Schauspiel, Kostüm, etc. voneinander, so beginnen sie wie Folien zu wirken, durch die betrachtet der Bismarck-Film von Liebeneiner viel aufschlußreichere Perspektiven auf den Nationalsozialismus denn auf das 19. Jahrhundert ermöglicht. Und genau auf diese Differenz zwischen Filmthematik und Produktions- bzw. Rezeptionswirklichkeit baut das Filmprogramm zur Bismarck -Ausstellung sein Konzept auf: wenn ein Millionenpublikum Paul Hartmann in der Rolle von Bismarck gesehen, verehrt und gefeiert hat, so stellt diese Tatsache eine eigene relevante historische Realität dar. Dieser spezielle Blick auf die Filme über das 19. Jahrhundert soll in erster Linie durch das Nebeneinander von Produktionen zum gleichen Thema aus verschiedenen Epochen und Ländern entstehen; so werden allein drei Filme über Ludwig II. gezeigt. Das Programm versucht auf diese Weise zugleich, der Existenz und Thematik einzelner Historienfilme ihre Singularität zu nehmen: wenn in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg relativ viele Filme dieses Genres produziert wurden, in der BRD dagegen kaum, so ist diese Tatsache alles andere als zufällig. Beim Versuch, solche Querverbindungen zwischen Historienfilmen und der anderweitig geschriebenen (und in der Ausstellung selbst) dokumentierten Geschichte herzustellen, werden interessierte Zuschauer von den Veranstaltern nicht alleingelassen: vor den Vorführungen gibt es entsprechend akzentuierte Einführungen von Dramaturgen, Schauspielern, Filmwissenschaftlern. Außerdem werden wirklich nützliche Informationsblätter verteilt, auf denen vor allem zeitgenössische Kritiken abgedruckt sind.

Ein Filmprogramm für alle, die was lernen wollen.

Dorothee Wenner

Die Reihe beginnt am Sonntag, 26.8., um 19 Uhr mit „Der Kongreß tanzt“ von Ric Charell (leider ohne Einführung). Weitere Vorführungen: täglich (außer montags) um 19 Uhr im Kinosaal des Martin-Gropius-Baus. Tagesprogramm: siehe La Vie. „Bismarck“ von Wolfgang Liebeneiner wird am So., 16.9., (Einführung: Gehard Schoenberger) und Fr., 21.9. (Einführung: Ulrich Gregor), gezeigt.