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Kolonialistische Moral

■ Roger Garaudy über Marxismus und die Golfkrise

DOKUMENTATION

Der Philosoph Roger Garaudy war einst Ideologe der KP Frankreichs, als Abweichler wurde er ausgeschlossen, war dann Grün-Alternativer. Seit 1982 ist er Moslem „mit der Bibel unter dem einen Arm und Marx‘ Kapital unter dem anderen“.

Ulderico Munci: Sprechen wir zuerst über Marx, Professor. Stimmen sie ein endgültiges Requiem an?

Roger Garaudy: Marx war noch nie so lebendig und aktuell wie heute. Der Zusammenbruch der Kommunistischen Parteien ist seine posthume Rache. Seine Formel des Kommunismus bezog sich auf die Pariser Commune, die das Gegenteil der Sowjetunion war. Der Marxismus beinhaltet eine Handlungsanweisung, er ist eine Wissenschaft, die Widersprüche mit dem Ziel analysiert, sie zu überwinden. Niemals werden wir Marx Adieu sagen.

Sie sind Moslem. Wird es nach dem, was in Kuwait passiert ist, nicht schwierig, Araber zu sein und Mohammed zu folgen

-wie es der marrokanische Dichter Tahar Ben Jeloun kürzlich ausdrückte?

Es ist dann nicht schwierig, wenn man den Islam nicht mit jenen Verrätern identifiziert, die in vielen islamischen Ländern herrschen, besonders nicht mit König Fahd, der eine Karikatur des Islam verkörpert. War denn Stalin keine Karikatur des Marxismus? König Fahd entehrt den Islam. Die Massen, die heute in den arabischen Ländern gegen die USA demonstrieren, bezeugen dagegen einen phantastischen Prozeß der Bewußtwerdung.

Aber sie schreien „Es lebe Saddam Hussein, es lebe der neue Saladin!“ - ein machtgieriger Diktator, der über den Westen eine Apokalypse heraufbeschwören will!

Das Problem besteht nicht in Saddam Hussein, dessen Methoden bedauerlich sind. Er hätte diejenigen, die sich gegen den Emir von Kuwait erheben, unterstützen können, statt Panzer zu schicken. Das wirkliche Problem stellen die Vereinigten Staaten dar. Sie sind dabei, eine neue Form des Krieges gegen die Dritte Welt zu beginnen. Dabei bedienen sie sich zweier Vorwände: Der erste ist die Verteidigung der Normen des Völkerrechts. Was war, als sie Grenada überfielen und die UNO sie verurteilt hat? Und als sie die Marines nach Panama schickten und dem Vertreter dieses Landes verwehrten, vor dem Sicherheitsrat der UNO zu sprechen? Was war, als Israel den Rechtsstatus von Jerusalem änderte und die Westbank besetzte? Die UNO hat auch das verurteilt, aber die USA haben nur die Veto-Karte gezogen. Nie käme ich darauf, zu sagen, daß Bush das internationale Recht verteidigt. Er verteidigt die Gesetze des Dschungels.

Die Vereinigten Staaten als Projektion des Dämons? Eine fixe Idee von ihnen, Professor!

Sie sind das Böse. Sie sind die Gefahr, die uns beherrscht. Erinnern wir uns an die Kolonialkriege gegen die Dritte Welt. Sie geben vor, die Souveränität Kuwaits zu verteidigen. Aber sie vergessen zu erwähnen, daß von den Zeiten des Ottomanischen Reiches bis in die britische Mandatszeit Kuwait Teil des Irak war (der ebenfalls erst nach Zusammenbruch des osmanischen Reiches entstand, d.Ü.). Kuwait wurde erst 1961 geschaffen, als der irakische General Kassem sich entschied, den westlichen Ölgesellschaften die Konzession zu entziehen. Eine englische Militärexpedition hat das Phantom Kuwait zum Leben erweckt, um die Rechte der schwarzen Öl-Patrone zu sichern. Der Emir Al-Sabah ist nur ein Stammeshäuptling, und alle Mitglieder der Regierung gehören zu seiner Familie. Nur 8 Prozent der Bevölkerung dürfen wählen, und das Parlament wurde 1986 aufgelöst. Es gibt weder eine Nation noch ein Staatsvolk.

Vor die Wahl zwischen Bush und Saddam gestellt, gibt Garaudy, der „Philosoph des Dialogs“, dem Mann aus Bagdad den Vorzug?

Bush ist der Aggressor. Man verteidigt seine Handlungsweise, weil sie dem Geist des alten kolonialen Brigantentums entspricht. Wurde Saddam nicht unterstützt, als er den Iran angriff? Selbst dann noch, als er sich chemischer Waffen bediente? Oh, diese Heuchelei! Die Heuchelei der Mufti von Ägypten und des Königs Fahd von Arabien. Sie sagen: der Islam wird Saddam nie vergeben. Verteidiger des Koran? Lachhaft. Ägypten braucht nur das Geld König Fahds. Sie fragen mich, ob der Philosoph einen Ausweg weiß? Sie wollen unterstellen, daß der Philosoph unfähig ist, in politischen Begriffen zu denken. In meinem letzten Buch Mon tour du siecle en solitaire schrieb ich: Je mehr wir voranschreiten, desto mehr Utopie. Wie ein zurückweichender Horizont. Aber wenn wir unserem entfernten Ideal nicht treubleiben, wird unser Handeln blind. Wollen Sie, daß ich blind bin, daß ich in unnützen Leidenschaften lebe?

Ahnen Sie, wie man vor dem Abgrund des Krieges haltmachen kann, Professor?

Man muß alle Beschlüsse der UNO in die Tat umsetzen. Von der Verurteilung der Invasion Grenadas über die Verurteilung der Aktionen Israels in den besetzten Gebieten bis zur Aufforderung an Saddam, sich aus dem Kuwait zurückzuziehen. Und daß die USA die Koffer packen. Mein Denken hat sich niemals vom Handeln entfernt. Ich kann nicht vergessen, daß Bush einmal Chef des CIA gewesen ist, der größten Spionagezentrale der Welt. Ich kann auch nicht vergessen, daß Saddam Hussein, als ich ihn traf, auf mich den Eindruck eines aggressiven Polizisten machte, wie einer von denen, die im Mai '68 gegen die Studenten eingesetzt wurden. Seine Ideen über den Laizismus sind irrig. Aber, ich wiederhole es, der Kern des Problems ist nicht Saddam Hussein, sondern die kolonialistische Moral, die sich gegen den Islam und die dritte Welt wendet.

Als Moslem wissen Sie, daß wir uns einem Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden nähern?

Wir nähern uns? Wir sind mitten drin! Es kündigt sich eine schlimmere Zeit als die des zweiten Weltkriegs an, als es galt, das Deutschland Hitlers zu schlagen. Alle Grenzen Afrikas und der moslemischen Welt, die vom alten Kolonialismus gezogen worden sind und ihn überlebten, werden von einer Menschenwoge ausgelöscht werden. Saddam Hussein wird gewinnen, verlieren... eine zweitrangige Frage. Im Jahr 2000 werden von zehn Milliarden Erdenbewohnern neun zur Dritten Welt gehören. Niemand täusche sich, daß sie freiwillig Hungers sterben und den Völkermord akzeptieren werden.

Aus 'Corriere della Serra‘ (22.08.);

Übersetzung: Christian Semler

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