piwik no script img

Tennisgeschichte(n)

■ US-Open: Wo Banales zur Schlagzeile wird

New York (taz) - Sportgeschichte in tiefster Vollendung erreichte gestern die Autofahrer im New Yorker Feierabendstau per Radio: Nie zuvor in der Geschichte der US -Open, erfuhren die streßgeplagten Fahrer, hat es in der Woche vor Turnierbeginn so viel geregnet. Um das Ausmaß dieser atemberaubenden Information zu unterstreichen, heizte die New Yorker Radiostation WNEW am Ende der Meldung noch einmal richtig ein: „So get ready for a truely historic event“ - also, erwartet ein wahrhaftig geschichtliches Ereignis.

Ach ja, die Amerikaner haben es in diesen Tagen wirklich nicht leicht. Während in den vergangenen Monaten beinahe täglich Unglaubliches im fernen Europa geschah, mußte man sich hierzulande mit weitaus weniger sensationsträchtigen Meldungen begnügen: „George Bush im Urlaub“, „George Bush beim Angeln“, „George Bush sendet vom Golfplatz Truppen in den Golf“. All das soll sich nun ändern. Zumindest auf den Sportseiten.

Geschichte ist angesagt, und dies in einem Sport, der ohnehin nicht mehr auf regelmäßige historische Novitäten verzichten kann. Beim Geldreigen angefangen, und beim Stöhnen von Monica Seles aufgehört. Ach ja, die Seles: mit ihr tritt zum ersten Mal in New York eine 16jährige an, die als bisher einzige ihrer Altersklasse bereits über eine Million US-Dollar an Preisgeldern gewonnen hat. Somit ist Monica Seles bereits eine sportgeschichtliche Person, die, sollte sie gar das Frauenturnier gewinnen, in den USA durchaus den Ruf einer Revolutionärin vom anderen Stern erhalten könnte.

Da man aber diese große geschichtliche Bürde einem Teenie vielleicht doch nicht so recht zumuten kann, gibt es ja zum Glück (auch aus deutscher Sicht) einige respektable Alternativen: zum ersten Mal spielt Steffi Graf seit ihrer Nasenoperation ein Grand Slam-Turnier. Wow! Auch das ist tennisgeschichtlich sehr erwähnenswert. Aber angesichts der bisweilen stinkenden Luft auf der Tennisanlage in Flushing Meadow, angereichert durch den Flugverkehr vom John F. Kennedy-Airport nebenan, drängt sich die Frage auf: Hätte Steffi mit ihrer Operation nicht vielleicht doch bis nach den US-Open warten sollen?

Nur die Zeit wird hierauf einmal eine Antwort geben können. Und es wird immer wieder genügend zahlende Leute geben, die sie hören wollen. Das ist ja das Unglaubliche am Unternehmen Tennis. Ihm ist es gelungen, Menschen weltweit mit häufig banalen und öden Dingen über Jahre hinaus zu faszinieren.

Beispiel: Wenn ein Kumpel unter Tage bei schwerster körperlicher Arbeit so stöhnen würde, wie die Seles auf dem Tennisplatz, würde er sich innerhalb kürzester Zeit im Mannschaftswagen auf dem Weg ins Knappschaftskrankenhaus wiederfinden. Während Monica Seles für ihre Laute Fanpost aus aller Welt bekommt, würde für den Arbeiter höchstens ein Hustensaft herausspringen.

Anderes Beispiel: Jeder zweite Teenie, der aus Trotz im Wohnzimmer gegen den Schrank tritt, kriegt dafür eine gescheuert. McEnroe bekommt aber Applaus. Tja, Tennisspieler sind eben ganz besondere Wesen. Sie können, wie z.B. Agassi, mit einer kurzen, verwaschenen Jeanshose globale Verunsicherung auslösen. Übrigens freuen sich die New Yorker ganz besonders auf ihren Andre, den Hosenrevolutionär.

Bei ihm muß man sich nämlich immer auf neue Überraschungen gefaßt machen. Nichts wäre schöner und geschichtlicher, als wenn Agassi hier zum ersten Mal in langen Unterhosen spielen würde. Das Publikum läge ihm zu Füßen. Tja, get ready for a truely historic event.

Ralf Stutzki

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen