piwik no script img

Wut, Enttäuschung, Zorn

■ betr.: "Die Unfähigkeit, ein Bürger zu sein" (Das letzte Tagebuch des Albert Camus), taz vom 17.8.90

betr.: „Die Unfähigkeit, ein Bürger zu sein“ (Das letzte Tagebuch des Albert Camus),

taz vom 17.8.90

Wie sehr entbehren doch unsere linken Debatten von heute einer Haltung wie der Albert Camus‘. Sein Hadern mit dem, was er als die „kollaborationistische Linke“ bezeichnet, also sein Abstandnehmen von einer mit dem administrativ -bürokratischen Staatssozialismus paktierenden oder seine Opfer im Namen des Fortschritts übergehenden Linken - dieses Hadern kommt aus einem Herzen, das „mir selber und ihr (der Linken) zum Trotze“ dennoch weiterhin entschieden links schlägt. Seine Ablehnung der bürgerlichen „Händlergesellschaft“ und real-kapitalistischen „Welt des Geldes“ bleibt ungebrochen und radikal: „dieses Nichts, das die Bourgeoisie ist und das seit 150 Jahren der Welt eine Form zu geben versucht und dabei nur ein Nichts herstellt, ein Chaos.“

Kein Überlaufen demnach, kein anderseitiges Kollaborieren mit der heute scheinbar so siegreich herrschenden westlichen Gesellschaftsformation. Da ist nichts zu spüren von einem Zutrauen, im kapitalistischen Klassenstaat ungebrochen mitzuregieren, sondern spürbar allein ist „die Unfähigkeit, ein Bürger - und ein zufriedener Bürger - zu sein“ - wohl darum, weil bei Camus noch ein Empfinden und ein Wissen um die Beschaffenheit und das Elend der bürgerlichen Gesellschaft existiert hat. Damals.

Angesichts einer solchen Haltung kann ich heute gegenüber all den Linken, die sich jetzt in so unheimlicher Geschwindigkeit gewendet haben und einem „kollektiven Gedächtnisverlust“ (Oskar Negt) erlegen sind, gegenüber all den Ober-Realos gar, die nun schon mit deutschen Truppen im Rücken aufmarschieren, nur Wut, Enttäuschung und Zorn empfinden und mich abwenden: „You don't need a weatherman to know which way the wind blows“ (Dylan). Trauer und eine unendliche Schwermut ob solch einer kollaborationistisch sich selbst verratenden und all die unerhörten Opfer vergessenden Linken, die sich auf nichts mehr (außer vielleicht aufs Mitmachen - Mitregieren - Mitschießen) verpflichtet zu fühlen scheint.

Ich umarme im Geist meinen Genossen Albert Camus.

Steffen Bücher, Berlin-West, zur Zeit Luzern (CH)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen