: „Wilde 13“ ist nicht kriminell
■ 700 Mark Strafe für die beiden Angeklagten / Staatsanwalt: Blockierer verdeutlichen Angst der Bevölkerung vor der „Gefahr Atomkraft“ / Ermittlungen weiteten sich zur Massenbespitzelung aus
Aus Lüneburg Jürgen Voges
In seltener Eintracht ging gestern in Lüneburg ein Strafprozeß gegen zwei AKW-Gegner aus dem Wendland wegen „Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung“ schon am ersten Tag zu Ende. Gegen eine Zahlung der beiden Angeklagten von je 700 DM an die Landeskasse werde das Verfahren nach §153a des Strafgesetzbuches wegen geringer Schuld vorläufig eingestellt, verkündete bereits ein Stunde nach Prozeßbeginn der Vorsitzende der vierten Strafkammer des Lüneburger Landgerichts, Hans-Günter Stürmann. Danach nannte der Richter noch die Kontonummer der Landeskasse und erklärte den beiden Angeklagten, daß das Verfahren „bei Nachweis der Zahlung“ am kommenden Dienstag endgültig eingestellt werde.
So kurz dieser Prozeß, so überaus lang war seine Vorbereitungszeit, und so immens vor allem war der Ermittlungsaufwand. Die Anklageschrift warf dem Erzieher Hansel S. und dem Maschinenbauer Michael G., beide aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg, vor, im Jahre 1984 als Mitglieder einer kriminellen Vereinigung „gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr“ und Sachbeschädigung begangen zu haben. Frühzeitig abgetrennt wurde das Verfahren gegen einen dritten Angeklagten, der seit sechs Jahren in Nicaragua lebt. Die Anklage war das stolze Ergebnis der Arbeit einer 40köpfigen „Sonderkommission 602“ des niedersächsischen Landeskriminalamtes, die jahrelang zunächst wegen Bildung einer „terroristischen“, dann nur noch einer „kriminellen Vereinigung“ flächendeckend gegen den wendländischen Widerstand gegen Atomanlagen ermittelte. Zeitweise hatte die Soko Daten von 3.000 Personen in ihrem computergestützten „Spurendokumentationssystem“ (Spudok) gespeichert, für das in verdeckter und offener Observation wahllos Politisches, Persönliches und gänzlich Nebensächliches gesammelt wurde und das die LKA-Beamten auch mit den Ergebnissen von achtzehn Telefonüberwachungen fütterten. Ermitteln sollte die Sonderkommission die Urheber der zahlreichen Brandanschläge auf Baufahrzeuge im Wendland. Als Grundlage für die Anklage gegen Hansel S. und Michael G. diente ihr dann jedoch eine der offenen Widerstandsaktionen des Jahres 1984, bei denen Tausende von AKW-Gegnern mehrmals die Straßen zum Gorlebener Zwischenlager und durch systematisches Umlegen von Telefonmasten auch die Bahnstrecke Uelzen-Dannenberg blockierten. Die vier Zeugen für das Telefonmastfällen fand die Polizei schließlich in der kleinen wendländischen Drogenszene. Der Aufenthaltsort des einst wichtigsten Zeugen ist allerdings seit einiger Zeit unbekannt.
In der gestrigen zweiten Hauptverhandlung - die erste war im Jahre 1988 wegen fehlerhafter Auswahl der Schöffen geplatzt - stellte denn auch der Kammervorsitzende gleich einleitend Entlastendes fest: Aus einem einzigen umgesägten Masten, der noch nicht einmal auf die Bahnschienen gefallen sei, lasse sich nicht unbedingt die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung ableiten. Ganz im Stile eines Verteidigers verwies er auf die vielen anderen an den Blockaden Beteiligten, die unbestraft geblieben seien, auf das gewachsene Bewußtsein der Bevölkerung für die Gefahren der Atomkraft, die Sensibilisierung der Bevölkerung und selbst der Landesregierung für diese Gefahren. Auch die lange Dauer des Verfahrens dürfe nicht zu Lasten der Angeklagten gehen. Mit Hinweis auf zu erwartende mehrmonatige Verfahrensdauer und das ohnehin überlastete Gericht plädierte auch der Ankläger, Oberstaatsanwalt Johann -Albrecht Müller, dann für eine Einstellung wegen geringer Schuld. Von organisierter Kriminalität könne angesichts der Aktionen verschiedener Kleingruppen nicht die Rede sein.
Für die Verteidigung, die dem zustimmte, bezeichnete der Hamburger Rechtsanwalt Christoph Bode die angeklagten Blockadeaktionen dann als „reguläre Kosten eines demokratischen Meinungsbildungsprozesses“. Rechtsanwalt Dieter Magman verwies noch einmal darauf, daß nur aus drei von 100 Ermittlungsverfahren nach den 129er-Paragraphen auch ein Strafverfahren hervorgeht, daß diese Paragraphen vor allem der Ausforschung dienen. Auch wenn sich nach Auffassung der Lüneburger Staatsanwaltschaft im Landkreis Lüchow-Dannenberg einiges geändert hat, gleichgeblieben sind die Ermittlungsmethoden der Polizei: Von einem neuerlichen Ermittlungsverfahren, diesmal nach §129a, berichtete die BI Lüchow-Dannenberg nach Ende des Prozesses. Es richtete sich unter anderem gegen zwei Vorstandsmitglieder der BI, deren Telefone überwacht wurden. Von dem bereits 1988 eingeleiteten Verfahren erfuhren sie erst Anfang dieses Jahres, durch die Einstellung. Eine Akteneinsicht belegte, daß auch in den letzten beiden Jahren observiert wurde. Anlaß für die Durchleuchtung des Privatlebens der AKW -Blockierer waren die Planungen der BI für die ersten Transporte hochradioaktiven Mülls ins Wendland. Den Ermittlungsbehörden war die Parole „Der Castor kommt - Wir stellen uns quer“ bereits ausreichend für den Terrorismusverdacht.
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