: Woher kommt die Kraft der Wurzeln? Der stumme Zwang des Milieus muß abgelöst werden
■ Der Abschied von der Fiktion eines einheitlichen Arbeitnehmerinteresses / Perspektiven der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland / Solidarität und Geschlossenheit, die jahrhundertealten Fundamente der Gewerkschaften, passen heute nicht mehr in eine differenzierte Gesellschaft
Martin Kempe ist Journalist und schreibt in der taz über die Gewerkschaften. Man merkt dies seinem Buch Die Kraft kommt von den Wurzeln, das im gewerkschaftlichen Traditionsbuchclub „Büchergilde Gutenberg“ jüngst erschien, auch an. Die Sprache hebt sich wohltuend ab sowohl von der martialischen Rhetorik der Gewerkschaften als auch von der verqasten, mehr verschleiernden denn aufklärenden Sprache der Wissenschaft.
Kempe kennt sein Metier, die handelnden Personen und die oft nur von Insidern nachvollziehbaren organisatorischen und politischen Verästelungen der Gewerkschaften. Der Sachverstand des Insiders verführt ihn aber nicht dazu, die kritische Distanz zu den Gewerkschaften zu verlieren. Die hat er, und nicht zu knapp. Kempe beschäftigt sich mit den „Perspektiven der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland“, so der Untertitel, aber das Objekt seiner Betrachtung ist in erster Linie die IG Metall in der Bundesrepublik. Dies kann man ihm nicht zum Vorwurf machen, denn wer sich mit der Zukunftsdebatte in den Gewerkschaften befaßt, wird zwangsläufig länger bei der IG Metall verweilen müssen.
Öffentlich nachvollziehbar führen leider nicht allzuviele Gewerkschaften diese Diskussion um künftige Strategien und neue Perspektiven. Daß die gesellschaftlichen Umbrüche im Osten, speziell in der DDR, und ihre Auswirkungen auf die bundesdeutschen Gewerkschaften nicht zur Sprache kommen, ist ein Pech des Autors, das er mit all jenen teilt, die vom Herbst des Jahres 1989 überrascht wurden. Aber auch dies muß kein Defizit sein, denn über die deutsch-deutsche Eheschließung im Gretna-Green-Tempo wird sowieso pausenlos geredet und geschrieben.
Da ist es fast wohltuend, wenn sich ein Autor mit Themen beschäftigt, die für die Zukunft der Menschheit und die Entwicklung dieser Gesellschaft bedeutender sind als zum Beispiel Umweltverschmutzung, das Verhältnis zur Dritten Welt und die Gleichstellung von Mann und Frau.
Solidarität und Geschlossenheit, die jahrhundertealten Fundamente der Gewerkschaften, passen heute nicht mehr in eine differenzierte, freiheitliche Gesellschaft, so Kempe. Im Gegenteil: Sie ist „vielen zum Synonym für enge Bevormundung“ und verordneter Bewegung geworden. Lebenssituation und Lebensgefühl von immer mehr Menschen finden sich darin nicht wieder. Kempe befürchtet, wenn sich die Gewerkschaften diesen Veränderungen nicht stellen, dann „werden ihre politischen und ideologischen Fundamente langsam aber sicher zerbröckeln“.
Gefordert ist deshalb eine „neue Solidarität“, die allerdings nicht, wie Steinkühler es einmal formulierte, aus dem „stummen Zwang des Milieus“ resultiert, sondern die zwischen Menschen und Gruppen mit veränderten Wertehaltungen und Umgangsformen durch harte Überzeugungsarbeit erkämpft werden muß. Angesagt ist der Abschied von der Fiktion eines einheitlichen Arbeitnehmerinteresses, von der erzwungenen Vereinheitlichung durch bürokratische Politikformen des gewerkschaftlichen Apparates.
Daß dieser Apparat sich zu der von Kempe etwas brutal, aber richtig analysierten Erkenntnis durchgerungen hat, beweist der Autor in der kritischen Rezeption der Zukunftsdebatte der IG Metall. Die neue Solidarität, die „Einigkeit der Einzelgänger“, wie es Heinrich Böll einmal formulierte, erwächst aus der Politisierung von Menschen unterschiedlicher Verortung in dieser Gesellschaft, aber letztlich mit gemeinsamen Interessen. Produzenten und Konsumenten, Beschäftigte im öffentlichen Dienst und die Nutznießer öffentlicher Dienstleistungen haben gemeinsame, über den jeweiligen oder besser gesagt zeitweiligen Standort hinausgehende Interessen. Sie zu politisieren, zu organisieren und konfliktfähig zu machen, gehört zu den vornehmsten Aufgaben der Gewerkschaften.
Beispiel Umwelt: Kempe kritisiert, daß die IG Metall in ihrer Zukunftsdebatte zwar viel von der ökologischen Kreislaufwirtschaft geredet, zur Verkehrspolitik, insbesondere zum Automobil aber geschwiegen habe. „Wenn eines Tages Management und Betriebsräte - möglicherweise unter Schirmherrschaft des ADAC - gegen die Durchsetzung ökologischer Verkehrskonzepte mobilisieren, ist es für ein politisches Eingreifen der Gewerkschaft zu spät.“ Ich hoffe, wir können ihm diese Befürchtung nehmen, denn die IG Metall hat im Juni ein ökologisches Verkehrskonzept vorgelegt, das auch von der taz positiv kommentiert wurde. Dieses Konzept wird im Herbst auf einem Kongreß diskutiert, nicht mit dem ADAC, sondern mit den Umweltverbänden. Die IG Metall hat sich in diesem Fall für den „schwereren, aber aufrechteren Gang“ (Kempe) entschieden.
Beispiel internationale Solidarität: Kempe kritisiert zu Recht, daß die Gewerkschaften sich nicht einbinden lassen dürfen in die internationale Konkurrenz um mehr Marktanteile, sondern daß „die unterschiedlichen Interessen zwischen deutschen und ausländischen Beschäftigten in einem gemeinsamen Projekt sozialer Zukunftsgestaltung zusammengeführt werden“ müssen.
Ja, aber wie? Hier vermisse ich ein Eingehen auf die Schwierigkeiten national organisierter Gewerkschaften, gegen internationale Konzern- und Kapitalverflechtungen grenzüberschreitende Solidarität herzustellen. Er deutet dies zwar an, wenn er schreibt, daß Franz Steinkühler für den Satz „Nicht jeder Arbeitsplatz kann und darf in der Bundesrepublik erhalten werden, und nicht jeder neue Arbeitsplatz kann hier geschaffen werden“ viel Prügel in der IG Metall bekommen habe. In welche Situation geraten denn betriebliche Interessenvertretungen innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik, wenn ein Multi durch die Welt zieht und eine Milliardeninvestition zu vergeben hat, sie aber nur dort investiert, wo die Betriebsnutzungszeiten am höchsten sind, wo am Wochenende durchgearbeitet wird? Wie verhält es sich dann „mit der Kraft, die von den Wurzeln“, sprich: Belegschaften kommt und den übergeordneten nationalen und internationalen Solidaritätsansprüchen?
Schade, daß Kempe auf solche Konflikte nicht eingeht, die mittlerweile auf der Tagesordnung der betrieblichen Realität stehen, nicht nur hier in der Bundesrepublik, sondern in fast allen Teilen der Welt. Statt dessen flüchtet er sich in den internationalen Institutionalismus und kritisiert das Auseinanderfallen der Weltgewerkschaftsbewegung in den von den westlichen Gewerkschaften dominerten IBFG und den Moskauer Ableger WGB.
Auch sachliche Fehler haben sich hier eingeschlichen. Man kann die westlichen Zusammenschlüsse nicht als „sozialdemokratisch“ bezeichnen, denn schließlich reicht die Bandbreite von den konservativen US-Gewerkschaften über christliche und sozialdemokratisch orientierte Gewerkschaften bis hin zu den kommunistischen Gewerkschaften Italiens. Im betrieblichen Alltag hat dieses institutionelle Schisma sowieso nur eine nachgeordnete Rolle gespielt. Dies war mehr ein Spielplatz für Ideologen und kalte Krieger. In der Zukunft wird es von noch geringerer Bedeutung sein, denn der WGB ist in der Auflösung begriffen, da die sich reformierenden Gewerkschaften des ehemaligen real existierenden Sozialmus allesamt den westlichen Bünden beitreten wollen. Einzig die französische CGT hält die Fahne des real sozialistischen Dogmatismus unverdrossen in die Höhe.
Beispiel Frauen: Hier halte ich die Kritik Kempes für am zutreffendsten. Sie richtet sich jedoch nicht nur an die Männer, sondern auch an die Gewerkschaftsfrauen, die in ihrer Rigidität für bestimmte Arbeitszeitmodelle zu einem Dogmatismus neigen, der dem eigentlichen Ziel der Gleichverteilung von Erwerbs- und Privatarbeit zwischen den Geschlechtern abträglich sei. Es hat sich durchaus einiges bewegt in der „Frauenfrage“. So hat sich beispielsweise in der IG Metall seit Inkraftsetzung der Frauenförderpläne die Zahl der weiblichen Hauptamtlichen nahezu verdoppelt und liegt in der Relation nur noch wenige Prozentpunkte unter dem Anteil weiblicher Mitglieder. Über eine Höhergruppierungskampagne wurden von der Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt Zigtausende Frauen besser eingruppiert.
Doch unter dem Strich hinken die Gewerkschaften, auch die IG Metall, immer noch der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher. Kempe hat recht, wenn er moniert, daß die „Frauenfrage“ von den wolkigen Höhen der Menschheitsutopien heruntergeholt werden müsse, um Eingang zu finden in die Tarifpolitik der Gewerkschaften. „Sie müßte also, wenn dies alles ernst gemeint ist, in einem kontinuierlichen Bewußtwerdungsprozeß aller Gewerkschaftsmitglieder konflikt und damit letztlich auch streikfähig gemacht werden.“
Diesen Prozeß haben die Gewerkschaften noch vor sich. Wie schwierig er sein wird, läßt sich daran ermessen, daß das Bewußtsein für die Gleichstellung von Männern und Frauen einen starken Mittelschichtsbias aufweist - aber genau diese Arbeitnehmergruppe ist in den Gewerkschaften unterrepräsentiert. Es ist deshalb kein Zufall, daß Kempe im tarifpolitischen Kapitel immer wieder Querverweise auf das Frauenkapital einbauen mußte. Die neue Solidarität, die Einigkeit der Einzelgänger, wird sich bei aller Notwendigkeit von sozialen Bündnissen letztlich in der konkreten Betriebs- und Tarifpolitik festmachen. Hier wird sich beweisen, ob die Gewerkschaften in der Lage sind, differenzierte Lebenslagen und unterschiedliche Lebensverhältnisse aufzugreifen und Lösungen durchzusetzen, die individuelle Gestaltungsfreiräume erweitern.
Neue Solidarität heißt nämlich, der Individualität zum Durchbruch verhelfen. Die Gewerkschaften brauchen ein konstruktives Spannungsverhältnis zwischen Individualität und Kollektivität. Ohne kollektive Regelungen verkommt Individualität zum neokonservativen Ellbogenprinzip. Aber ohne individuelle Spielräume geraten in einer differenzierten und komplexen Gesellschaft die kollektiven Grundlagen in Gefahr.
Es war kein Zufall, daß die Zukunftskongresse der IG Metall im Jahre 1988 unter dem Motto: „Die andere Zukunft: Solidarität und Freiheit“ standen. Diese dialektische Spannung wird die gewerkschaftliche Arbeit auf allen Feldern beherrschen: in der Programmatik und praktischen Politik ebenso wie in der demokratischen Binnenkultur und im Verhältnis zu sozialen Bewegungen. Der stumme Zwang des Milieus wird abgelöst werden müssen durch die Einheit in Vielfalt. Dabei wird dies keinesfalls eine Einbahnstraße sein, wie Martin Kempe suggeriert, wenn er fast pathetisch schreibt: „Denn heute wie früher kommt alle Kraft zu gesellschaftsverändernder Gewerkschaftspolitik von unten.“
Manchmal trifft das sogar zu. Aber von unten kommt eben auch Betriebssyndikalismus, Standortegoismus und nicht selten ein beträchtliches Beharrungsvermögen. Der gewerkschaftliche Reformprozeß wird nur voran kommen, wenn Initiativen von unten und Anstöße von oben miteinander verknüpft werden.
Kempes Buch zeigt, daß zumindest die gewerkschaftliche Diskussion auf der Höhe der Zeit ist, auch wenn sie sich an der gewerkschaftlichen Praxis noch häufig stößt. Schließlich darf nicht vergessen werden: Kempe weist darauf hin, daß es nicht allein um die Zukunft der Gewerkschaften geht, „weil die Gewerkschaften Teil eines gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs sind und nur darin ihre politischen Ziele und Durchsetzungsstrategie formulieren können. Letztlich ging und geht es darum, neue Elemente einer progressiven, emanzipatorischen Gesellschaftspolitik zu entwickeln, eine konkrete Idee der heute möglichen Wohlfahrt für alle Menschen zu erarbeiten.“
Karlheinz Blessing
Martin Kempe: Die Kraft kommt von den Wurzeln. Perspektiven der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland. Büchergilde Gutenberg 1990, 264 Seiten
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