„Unvorstellbar primitive Bedingungen“

■ Interview mit Sebastian Pflugbeil, Mitglied des „Neuen Forum“ und ehemaliger Minister unter Hans Modrow, über seinen Besuch der Region um Tschernobyl / „Informationsniveau unheimlich niedrig“ / Auch die Regierung kennt sich kaum aus

taz: Herr Pflugbeil, Sie haben in den vergangenen Tagen Belorußland und die Umgebung des Unglücksreaktors von Tschernobyl besucht. Was war Anlaß ihrer Reise?

Sebastian Pflugbeil: Wir haben in den vergangenen Monaten versucht, Kindern aus den verseuchten Gebieten wenigstens in den Ferien in der DDR zu einer vergleichsweise sorglosen Zeit zu verhelfen. Jetzt überlegen wir, wie unsere Initiative fortgesetzt werden kann. Dazu war es notwendig, die Verhältnisse dort genauer zu studieren, weil die offiziellen Verlautbarungen über die Situation sehr widersprüchlich sind. Wir hatten sehr hilfreiche Gespräche mit dem Komitee „Kinder von Tschernobyl“ und der „Volksfront“, die vergleichbar ist mit dem Neuen Forum bei uns.

Es gab hier in den vergangenen Tagen und Wochen neue, erschreckende Meldungen, wonach der 1986 in aller Eile aus dem Boden gestampfte Stahlbeton-Sarkophag um den Reaktor einzustrürzen droht. Wie reagieren die Menschen in der Umgebung auf diese Berichte?

Über dieses neue Problem ist in Bjelorußland überhaupt nichts bekannt. Nur einige wenige unter den zuständigen Experten wußten, daß die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) mit hundert Fachleuten am Reaktor arbeitet. Was die dort tun, das wußte niemand. Angeblich nichtmal auf der Ebene der bjelorussischen Regierung.

Heißt das, die Leute werden über die Gefahren weiter bewußt im Unklaren gelassen?

Darüber kann man nur spekulieren. Jedenfalls ist das Informationsniveau - auch der Verantwortlichen - allgemein außerordentlich niedrig. Zum Beispiel wissen Ärzte, die sich mit mißgebildeten Kindern befassen, nicht, wie sich die Zahl der Mißbildungen vor und nach dem Unfall verändert hat. Man wird immer wieder an höhere Stellen verwiesen. Es hat offenbar kaum jemals irgendwelche belastbaren Aussagen über die wirkliche Situation gegeben.

Auch die Fachleute sind von konkreten Informationen abgeschnitten?

Das ist unser Eindruck. Allerdings ist sehr schwer zu beurteilen, ob jemand keine Informationen bekommt, ob er sich nicht dafür interessiert oder ob es einfach keine gibt. Vielleicht gibt es auch Ängste, Ausländern Details zu berichten.

Wirkt die offensichtliche Uninformiertheit beruhigend auf die Leute?

Nein. Die Konsequenzen für die Leute sind schlimm. Zum Beispiel werden in hochbelasteten Gebieten neue Wohnungen gebaut. Die Leute werden aus hoch- oder mittelbelasteten Zonen wiederum in mittelbelastete umgesiedelt. Das ist das Resultat einer nach wie vor starren Planwirtschaft, die einmal was plant und das dann einfach vollzieht.

Wie sieht denn konkret die medizinische Versorgung aus und die mit Lebensmitteln?

Wir waren in einem Ort, in dem aus Pripjat (Stadt unmittelbar am Reaktor, d.Red) evakuierte Leute leben. Die sind von der Regierung regelrecht vergessen worden und wurden deshalb auch nicht entsprechend gesundheitlich überwacht. Die Ärztin dort, eine sehr freundliche Frau, hat uns voller Stolz ihr Stethoskop gezeigt, das sie vor einem Jahr erhalten hat. Die Ärzte arbeiten unter unvorstellbar primitiven Bedingungen. Es gibt nur ganz wenige „Spezialkliniken“, aber auch dort ist die Ausrüstung mit Labortechnik katastrophal. In den Lebensmittelläden gibt es praktisch nur belastete Nahrung. Es gibt kein Obst und Gemüse. Die Leute essen, was sie anbauen. In den hochbelasteten und mittelbelasteten Zonen erhalten sie das sogenannte Sarggeld, um sich unbelastete Lebensmittel kaufen zu können. Die gibt es aber nicht. In der Regel wird das Geld in Alkohol umgesetzt, der in der Zone leichter zu haben ist als anderswo. Auch das macht nachdenklich.

Anfang der Woche wurde hier ein weiterer Störfall und die Abschaltung von Block III des Reaktors gemeldet. Ist das vor Ort bekanntgeworden?

Wir haben noch am Mittwoch mit Fachleuten über den Reaktor gesprochen. Da hat nach meinem Eindruck niemand etwas von diesen Zwischenfall gewußt.

Interview: Gerd Rosenkranz